Thomas Gehrmann

Kritische Anmerkungen zu “Bert Hellinger. Mein Leben. Mein Werk”von 2018

Bert Hellinger zu Ehren

von Thomas Gehrmann

Fassung 2.1 vom 12.3 2020

Vorbemerkung

Diese angebliche Autobiografie Bert Hellingers befasst sich mit alten Geschichten, die ihn längst nicht mehr interessierten. Umgekehrt enthält es so gut wie nichts von dem, was ihn in seinen letzten Lebensjahren wirklich beschäftigte. Vieles, was in dem Buch geäußert wird, passt nicht zu ihm. Vieles ist auch einfach falsch – sei es aus blanker Unwissenheit oder mit Absicht. Alles in allem finde ich wenig glaubhaft, dass Bert selbst an der Entstehung dieser Biografie maßgeblich beteiligt gewesen wäre.

Ich nenne es “schwarzes Buch” wegen seiner düsteren Umschlaggestaltung, von der Bert, der damals noch lebte, den Leser wie aus dem Reich der Schatten heraus anschaut.

Als ich im Frühjahr 2019 in dem Buch Bert Hellinger. Mein Leben. Mein Werk las, schaffte ich es bis Seite 111. Dann legte ich es angewidert beiseite. Das war nicht Bert, der aus diesem Buch sprach! Eine befreundete Aufstellerin sagte mir wenig später: “Alle, die Bert von früher kennen, finden dieses Buch schrecklich. Aber viele, die neu zum Familienstellen kommen, sind froh, etwas über ihn persönlich zu erfahren.”Beim Schreiben meiner Erinnerungen an Bert kam ich an einen Punkt, an dem ich diese sogenannte Autobiografie nicht länger ignorieren konnte. Also unterbrach ich die Arbeit an den Erinnerungen, um eine Kritik dieses Buches zu schreiben.

Die Reaktionen in meinem Umfeld reichten von der milden Skepsis “Wozu machst du das?” bis “Das kannst du nicht tun, nicht zu diesem Zeitpunkt. Das ist unanständig!”. Eine Freundin, die das Manuskript gelesen hatte, meinte: “Als ich das las, wurde mir schwindelig.” Doch nur ein einziger Einwand hätte mich von dieser Veröffentlichung abbringen können: Wenn mir jemand gesagt hätte: “Was du da schreibst, das stimmt nicht!” Aber dieser Einwand kam (bisher) nicht. Sollten Leserinnen und Leser dieser Seiten etwas ergänzen oder korrigieren wollen – ich bin gern bereit, das aufzunehmen.

“Auto”-Biografie?

In einem Nachruf auf Bert las ich dies: “Bert Hellingers Schaffenskraft war unermüdlich. Bis zuletzt war er aktiv. Die beiden letzten Jahre verbrachte er schreibend an seiner Biographie, verbunden mit der Weiterentwicklung des Familienstellens, und weiteren spannenden Artikeln oder Büchern.

Ich weiß nicht, wer dieses Gerücht in die Welt gesetzt hat, aber ich weiß, dass es nicht zutrifft. Bert hat nicht mehr geschrieben, kein Buch, geschweige denn Bücher, auch keine “spannenden Artikel”. Wo wären die denn zu lesen? So, wie ich Bert in den letzten zwei Jahren seines Lebens erlebt habe, war er gar nicht mehr in der Verfassung, Bücher zu schreiben.In dieser Zeit war er fast ausschließlich auf das bezogen, was er in den zehn Jahren vor seinem Tod immer wieder als die “andere Dimension” bezeichnet hat. Er beschäftigte sich gar nicht mehr mit der Praxis des Familienstellens oder gar ihrer “Weiterentwicklung”. Diese Biografie jedoch versucht, genau diesen Eindruck zu erwecken.Wenn aber dieses Buch gar nicht von Bert wäre – von wem wäre es dann? Und warum sollte jemand vortäuschen, dass es sich um eine Autobiografie handelt, wenn es nicht stimmt? Welchen Interessen würde das dienen?

Geschrieben ist das Buch von Hanne-Lore Heilmann, angeblich nach Berts eigenen Berichten. Frau Heilmann ist sehr vertraut mit Sophie Hellinger. Vieles in diesem Buch passt einfach nicht zu Bert; aber es passt zu seiner Witwe. Wenn ich es in dem Bewusstsein lese, es sei von ihr verfasst und nicht von ihm, dann passt auf einmal alles, was sonst verworren scheint. Im Folgenden werde ich von diesem Buch einfach als der Biografie sprechen. Das trifft ja zu, egal, wer sie verfasst hat – und egal, was sie taugt.

“Keine neuen Einsichten”

Der eingangs zitierte Nachruf erwähnt eine Verbindung von Berts Schreibtätigkeit mit einer Weiterentwicklung des Familienstellens. Was für eine Weiterentwicklung soll das sein? Der einzige konkrete Hinweis findet sich am Ende des Buches, wo es heißt: “Seit einiger Zeit ist es so, dass ich meiner Frau Sophie folge, auch bei der Weiterentwicklung des Familienstellens. Dazu gehört beispielsweise ihre Erkenntnis des Zusammenhangs zwischen der Epigenetik, dem wohl derzeit spannendsten Forschungsgebiet der Biologie, und dem Familienstellen.”

Hat Bert aktuelle Entwicklungen in den Naturwissenschaften verfolgt? Fand er sie spannend? Kaum zu glauben! Wie dem auch sei: Falls es den Zusammenhang, der da behauptet wird, gibt, dann stellt er einen bisher unbekannten Effekt der Aufstellungsarbeit dar. Das ist aber keine Weiterentwicklung der Aufstellungsarbeit. In dieser Hinsicht gibt es nichts Neues.

Persönlich finde ich Neues sogar, wenn ich – mit meinem Verständnis von heute – in Berts alten Bücher lese. Aber ich in dieser Biografie steht nichts, dass irgendetwas, was Bert früher gemacht oder gesagt hat, hinter sich ließe. Eine Freundin, die vor etwa einem Jahr mit Bert telefoniert hatte, berichtete mir: “Er sagte, seine Arbeit sei getan, und es gäbe keine neuen Einsichten.”

Autobiografie?

Vor vielen Jahren erklärte Bert, er werde auf keinen Fall eine Autobiografie schreiben. Das war ihm zu selbstbezogen. Ihm ging es nicht um seine Person. Auch in den zwei Jahren, bevor er starb, hat er bei all meinen Besuchen und Telefonaten niemals erwähnt, dass er sich mit einer Autobiografie befasse. Und wer ihn ein wenig kannte, bemerkt bei der Lektüre bald: “Das ist nicht Bert, der da spricht!” Nicht nur die Sprache stimmt nicht – so hat er einfach nicht gedacht!

Man könnte nun sagen: “Ist doch egal, wer’s geschrieben hat – wenn es nur eine gute Biografie ist.” Dazu zweierlei: Erstens: Wenn es egal ist, warum dann überhaupt erst vortäuschen, Bert habe die Biografie selbst verfasst? Warum? Oder anders gesagt: Wer hat welches Interesse daran? Zweitens: Wann ist eine Biografie denn gut? Welchen Erwartungen sollte sie gerecht werden?

Im Vorwort erläutert “Bert”, warum er seinen Vorsatz, niemals eine Autobiografie zu verfassen, umgestoßen habe: “Darf ich meiner Frau aufbürden, später – wenn ich nicht mehr bin, und das kann jeden Tag passieren – für mich zu sprechen? Fragen, die mit meiner Person zusammenhängen, für mich zu beantworten? Sozusagen für mich zu erledigen, wozu ich keine Lust hatte? Dazu habe ich kein Recht.” Wer Sophie nicht kennt, könnte gerührt sein. Doch haben viele Menschen die Erfahrung machen müssen, dass sie überhaupt kein Problem damit hat, auf Fragen nicht zu antworten. Außerdem hat sie Personal, um lästige Fragesteller abzuwimmeln.

Im vergangenen Frühjahr hatte ich im Hellinger-Büro selbst Woche um Woche angerufen, und nach Bert gefragt. Immer hatte er entweder angeblich noch geschlafen oder war wieder schlafen gegangen, war mit Sophie weggefahren oder war gerade im Schwimmbad. Ich solle es später noch mal versuchen. Rief ich später wieder an, war es das Gleiche. Irgendwann habe ich aufgehört, es zu versuchen, weil ich den Mitarbeitern im Büro nicht mehr zumuten wollte, mich ständig anzulügen.

Schließlich erfuhr ich über drei Ecken, Bert habe einen Oberschenkelhals-Bruch erlitten. Als Sophie das kurz danach bestätigte, habe ich ihr nahegelegt, nicht solch eine Heimlichtuerei darum zu veranstalten. Daraufhin antwortete mir Hanne-Lore Heilmann (ja, richtig, das ist die offizielle Ko-Autorin der Biografie!) in der Funktion als Sophies Privatsekretärin:

“Bert wünscht keinen Besuch, er will endlich mal die Zweisamkeit mit Sophie in Ruhe genießen können. Auch Sophie bittet um Verständnis dafür. Bert hat sich bereits vor mehr als einem Jahr aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, und es besteht deshalb kein Anlass für Stellungnahmen irgendeiner Art. Er führt jetzt das Leben einer Privatperson, und niemand hat ein Anrecht auf Informationen in Bezug auf ihn. Beide, Sophie und Bert, bitten ihre Privatsphäre zu respektieren und von weiteren Anfragen abzusehen.”

Keine Informationen über Bert

Angesichts der Umstände wäre es möglich, dass Bert nicht besucht werden wollte. Ich bezweifle das. Die Aussage seiner Biografin, niemand habe “ein Recht auf Informationen über ihn”, ist schon befremdlich. Doch der aufmerksame Leser wird feststellen, dass diese Biografie tatsächlich über den Menschen Bert Hellinger und sein tägliches Leben kaum etwas mitteilt.

Es gibt in der Biografie eine neue, lebensvolle Geschichte aus der Zeit, als Bert aus dem Orden austrat: „Zuvor hatte ich mich nie um alltägliche Dinge wie Einkaufen, Putzen oder Kochen kümmern müssen. Im Kloster wurde einem alles abgenommen. Ich erinnere mich, wie ich am Anfang meiner Wiener Zeit in einem Käseladen stand und keine Ahnung hatte, wie viel einhundert oder fünfhundert Gramm ausmachen. Um mich nicht zu sehr zu blamieren, bestellte ich einfach die gleiche Käsemenge wie die Frau vor mir. Die Größe ihres Stückes schien auch für mich passend zu sein.“

Diese nette Anekdote bleibt ein einsamer Ausreißer. Aus den Jahrzenten danach gibt es nichts dergleichen. Am Ende des Buches heißt es: „Wie verläuft denn mein Leben? Es verläuft gelassen, mit einer gesammelten Ruhe, was immer mir begegnet.“ Wenn man weiß, wie er lebte, kann man sagen: „Ja, das trifft im Großen und Ganzen zu.“ Wenn man es nicht weiß, erfährt man es auch nicht aus der Biografie. Viele Darstellungen dort sind von ähnlicher Allgemeinheit.

Ich habe mal ausgezählt, welchen Lebensabschnitten Berts seine Biografin wie viel Raum gewidmet hat. Das Ergebnis lautet, dass die Biografie großes Gewicht legt auf Berts Zeit als Soldat und auf seine Therapie-Ausbildungen. Nur einen mittleren Wert erreicht das systemische Familienstellen. Eher stiefmütterlich behandelt werden Kindheit und Jugend, Priester und Schulleiter sowie Berts letzte 15 Lebensjahre.

Wer wissen möchte, welche Truppenteile der Wehrmacht 1944 bei Aachen lagen, als die Amerikaner anrückten, oder was für ein Nazi-Verbrecher der Herr Caruso war, der später Berts Diplom als Psychoanalytiker vermasselte, der wird hier gut bedient. Wer jedoch etwas über das letzte Vierteljahrhundert von Berts Leben erfahren möchte, dem wird nur schmale Kost geboten. Das ist kaum etwas, was Bert in seinem Gesprächsband mit Gabriele tenHövel nicht bereits erzählt hätte. Jenes Buch, Ein langer Weg, ist übrigens wirklich autobiografisch. Dort spricht Bert in eigenen Worten über sich, seine persönliche Entwicklung und seine Arbeit. Über alles, was danach kam, teilt auch Mein Leben. Mein Werk kaum etwas mit.

Herta und Sophie

Der Klappentext von Mein Leben. Mein Werk wirbt damit: „Zum ersten Mal spricht Bert Hellinger über private Erlebnisse“. Was ich hier zum ersten Mal gelesen habe,
ist seine Mitteilung (falls es denn seine wäre) darüber, wie er seiner zweiten Frau Sophie näher gekommen ist und sich von seiner ersten Frau Herta getrennt hat: „Unsere Beziehung wurde enger, ja, beide fühlten wir uns zueinander hingezogen. Doch für Sophie wäre ein Verhältnis zu einem verheirateten Mann nie in Frage gekommen.“

Über so intime Angelegenheiten habe ich Bert niemals sprechen hören, und ich hätte ihn auch nie danach gefragt. Ich finde es schon merkwürdig, dass er hier so etwas ausbreiten sollte. Bert war kein Moralist. Für Ehebruch hätte er niemanden – auch sich selbst nicht – verurteilt, umgekehrt aber auch niemanden dafür gepriesen, dass er (oder sie) so etwas nie getan hätte. Es ist schwer zu begreifen, warum Bert das behauptet haben sollte.

Die Sache sieht ganz anders aus, wenn man fragt: Warum sollte Sophie so etwas behaupten? Stellen wir uns vor, sie selbst würde, ohne “Bert” vorzuschieben, ungefragt über sich sagen: “Für mich wäre ein Verhältnis zu einem verheirateten Mann nie in Frage gekommen.” Was würdest du, lieber Leser, dann denken? Hier erklärt sich der Hinweis aus dem Vorwort, Bert habe diese Autobiografie verfasst, um seiner Frau gewisse „Fragen, die mit meiner Person zusammenhängen“, zu ersparen.

Mit genauen Zeitangaben ist die Biografie in diesem Zusammenhang übrigens sparsam, aus gutem oder schlechtem Grund: „Ende der 1990er Jahre kam eine neue Teilnehmerin in meine Seminare: Sophie“. „Im Jahr 2000 eröffnete Sophie in Bad Reichenhall eine Hellingerschule“ – da durfte ihre Firma also schon seinen Namen tragen. Erst ein Jahr später, „in den letzten Tagen des Jahres 2001 traf ich eine Entscheidung: Ich würde mich von Herta scheiden lassen.“ Passt das zusammen?

Bevor mich die Biografie mit der Nase darauf stieß, habe ich über diese Frage nie nachgedacht. Ich wusste von Herta bis dahin so gut wie nichts. Das wenige allerdings reichte um zu erkennen, dass die Angaben der Biografie über sie nicht alle stimmen. Aber würde das irgendetwas von dem, das Bert uns gelehrt hat, in einem anderen Licht erscheinen lassen? Auf jeden Fall wirft es ein Licht darauf, wie Sophie sich Berts (und nach seinem Tod auch noch seines Geistes), seines Namens und seines Werkes bemächtigt.

Neues Familienstellen, Bewegungen des Geistes

Seit 2005 der biografische Gesprächsband Ein langer Weg erschien, entfaltete Bert, was er das Neue Familienstellen nannte. Hier wäre eine ausführliche Darstellung angebracht. Die Biografie enthält auch ein eigenes Kapitel dazu. Es umfasst, wie gesagt, ganze 8 Seiten. Auf den ersten Blick erscheint das vielleicht wenig. Doch wenn man genauer hinschaut, dann ist es noch viel weniger!

Schon 2007 schrieb Wilfried Nelles: “Die ‚Bewegungen der Seele’ sind von Anfang an missverständlich gewesen. Das Missverständnis lag und liegt in der Gleichsetzung der Methode (die Stellvertreter dürfen sich bewegen) und innerer Bewegung (die Seele wird bewegt). Das erweckt den Eindruck, dass es in den alten, statischen Aufstellungen keine innere Seelenbewegung gegeben hätte.” (Praxis der Systemaufstellung, 1/2007)

Ich habe diesen Artikel damals in meinem Buch Über Psychotherapie hinaus völlig verrissen. Auch heute würde ich sagen, dass dies nicht Nelles’ bester Artikel war. Doch mein Furor, Bert gegen jede Kritik zu verteidigen, war maßlos. Ich muss bei Nelles Abbitte leisten. Sein oben zitierter Einwand ist nicht von der Hand zu weisen. Weiter beklagte Nelles sich, dass Bert “seit Beginn des Jahres 2006 vom ‚geistigen Familienstellen’ spricht und dies als ‚das neue Familienstellen’ bezeichnet”, dabei aber das Wort ‚Seele’ “ohne weitere Erläuterungen durch den ‚Geist’ ersetzt habe.” Für Bert war das Neue Familienstellen also gleichbedeutend mit “geistigem Familienstellen”, “Bewegungen des Geistes” oder “Gehen mit dem Geist”.

Solch eine Klarstellung fehlt in der Biografie! Was erfahren wir dort überhaupt darüber, was Bert mit diesem Geist meinte? Der Ich-Erzähler der Biografie lässt wissen: “Vom Geist spreche ich im Sinne einer höheren Macht, die als Ursache von allem angesehen werden muss. Dieser Geist offenbart sich auch in den Bewegungen unseres Körpers und unserer Seele. Das zeigt sich in dem Phänomen, dass die Stellvertreter bei einer Familienaufstellung plötzlich fühlen wie die Personen, die sie vertreten, ohne etwas von ihnen zu wissen.”

Der Geist, der durch sein Denken alles ins Dasein bringt und bewegt, wie Bert oft gesagt hat, zeigt (oder offenbart) sich natürlich in allem, was ist, und darin, wie es sich bewegt. Das zeigt sich im Stellvertreter-Phänomen ebenso wie in jedem beliebigen anderen Phänomen – nicht mehr und nicht weniger. Und dieser Quatsch ist alles, was die Biografie zum Thema Geist zu sagen hat. Vage Hinweise auf höhere Mächte machen dort, zusammengezählt, etwa eine Seite aus – eine von fast 300 Seiten! Das sagt schon etwas darüber aus, wie nah oder wie ferne die Verfasser der Biografie Berts theologisch-philosophischem Denken sind.

Falsch, falsch und nochmal falsch!

Im dritten Absatz des Kapitels Das Neue Familienstellen heißt es: “Statt der ganzen Familie wird oft nur ein Stellvertreter für den Klienten aufgestellt. Dabei ist es wichtig, dass sich dieser Stellvertreter – ohne dass er etwas über den Klienten weiß – allein der inneren Bewegung überlässt, wie sie ihn von innen und außen erfasst.” Das ist an sich nicht falsch. Falsch ist zu behaupten, es sei neu!

Weiter heißt es: „Wenn sich der Stellvertreter den Bewegungen des Geistes überlässt, schaut er manchmal, ohne dass er sich dagegen wehren kann, auf den Boden. Dieser Stellvertreter schaut auf einen Toten. Mehr noch: Es zieht ihn zu einem Toten.“ Auch diese Darstellung ist an sich richtig. Aber was soll daran neu sein? Bert selbst schrieb dazu (wie oben zitert): „Von Anfang an bewegten sich die Stellvertreter ohne einen Eingriff von außen in eine Richtung, die unmittelbar ans Licht brachte (…), ob es jemand in den Tod zog.“ Wenn es von Anfang an so war, dann ist es nicht neu. Das macht kein Neues Familienstellen aus!

Oder dies: „Das Neue Familienstellen hat sich auch im öffentlichen Bereich von Beruf und Unternehmen als hilfreich und bahnbrechend erwiesen. Vor allem, weil es weit in die Vergangenheit hineinreicht. Es bringt Hintergründe für Erfolg und Misserfolg ans Licht.“ Ja, das tut es. Aber das ist wieder nichts, was das neue Familienstellen dem alten voraushätte. Aufstellungen nach Bert Hellinger reichten immer weit in die Vergangenheit und brachten Hintergründe für vieles ans Licht. Abermals: Das ist nichts Neues!

Oder dies: „Was zeigt sich hier? Der Klient will anstelle einer anderen Person sterben. Wir können uns vorstellen, welche Erleichterung es für ihn sein muss, wenn er plötzlich erfasst, dass es sich hier um eine Verschiebung handelt. Auf diese Weise geht das geistige Familienstellen weit über die früheren Grenzen der Familienaufstellung hinaus.“ Ist das wahr?

Wieder muss man sagen, dass die Darstellung in der Sache richtig ist. Natürlich bringt es eine große Erleichterung, wenn man erkennt, dass solch ein „Zug zum Tod“ aus einer (bis dahin unbewussten) Verstrickung herrührt. Das ist Teil des Familienstellens nach Bert Hellinger und ist es immer gewesen. Es geht nicht über die früheren Grenzen der Familienaufstellung hinaus, wie die Biografie behauptet.

Weiter heißt es dort: „Ab 1982 bot ich in Seminaren die heute von mir sogenannte klassische Familienaufstellung an, die ich später mit meiner zweiten Frau Sophie zum Neuen Familienstellen weiterentwickelte.“ Praktisch alles, was in dem Buch über das „neue Familienstellen“ mitgeteilt wird, ist falsch. Wenn es ein Neues Familienstellen gibt, müsste man es doch auch darstellen können. Warum scheitert diese Biografie daran so gründlich?

In ihrer Danksagung schreibt Hanne-Lore Heilmann: „Besonders dankbar sind wir [das meint: Bert Hellinger und sie selbst] Sophie Hellinger: Unermüdlich hast du aus dem Schatz deiner Erinnerungen zum Gelingen dieses Buches beigetragen. (…) Außerdem hast Du jede Seite des Manuskripts genauestens gelesen und dafür gesorgt, dass sich keine Fehler einschleichen konnten.“ Da kann ich nur sagen: Viel geholfen hat es nicht!

Anstößig

Ob es tatsächlich ein Neues Familienstellen gibt oder nicht – aus der Biografie erfahren wir es nicht. Hier ist dieser Begriff nur eine hohle, inhaltslose Floskel. Der Begriff ist hier eine hohle, inhaltslose Floskel. Sie bedeutet nicht mehr als „Das neue Persil“ oder „Der neue Opel Astra“. Aber vielleicht genügt es den Autorinnen der Biografie. Vielleicht ist genau das, was sie haben wollen: Ein Werbe-Slogan.

Einleitet wird das Kapitel so: “Ausgehend von meinen Erlebnissen und Erkenntnissen zur Versöhnung von Opfern und Tätern bei Familienaufstellungen entwickelte ich zusammen mit meiner Frau Sophie das sogenannte Neue Familienstellen. Es begann für mich damit, dass ich im Jahr 2008 mehr als sechs Mal an den Energieseminaren Cosmic Power meiner Frau teilgenommen hatte. Hier eröffnete sich mir eine neue Dimension.”

Wie bitte? Was sich Bert in Sophies Cosmic-Power-Seminaren eröffnete, wer weiß. Vielleicht sogar eine neue Dimension. Aber dass hier im Jahr 2008 der Anfang des Neuen Familienstellens gelegen habe, ist nicht wahr. Seit der Aufstellung von Bern 1999 änderte Bert seine Vorgehensweise. Dabei sprach er zunächst von den “Bewegungen der Seele” seit Anfang 2006 vom “geistigen” oder “neuen” Familienstellen. Das hatte mit Sophie und ihren Energie-Seminaren überhaupt nichts zu tun!

Ich finde es schon anstößig, wenn die “Fehler” in der Biografie eine bestimmte Tendenz aufweisen, nämlich Sophie besondere Beiträge zur Entwicklung des Familienstellens zuzuschreiben, wo es sie nicht gibt.

Bert und die DGfS

Austausch und Dialog hätten Bert gut getan. Aber seine Möglichkeiten dazu waren zunehmend eingeschränkt. Aber das war nicht immer so. Teilnehmer seiner früheren Seminare in den 80er und 90er Jahren erinnern sich an ihn als weit umgänglicher und dialogfreudiger als späterhin.

Wer oder was genau hinter dem Zerwürfnis mit den Systemaufstellern steckte, ist anderen besser bekannt als mir. Die Biografie schweigt sich dazu aus. Die Bewegung der Systemaufsteller, ihre Kongresse und ihre Organisationen (zunächst IAG, später DGfS) waren keine nebensächliche Episode in seinem Leben, genauso wenig wie Berts Bruch mit ihnen. In der Biografie jedoch finden wir dazu nur einen einzigen schmalen Absatz. Die Tatsache dieser Trennung, will mir scheinen, hat Bert persönlich nicht gut getan. Sie führte dazu, dass er für einen Austausch kaum noch Ansprechpartner hatte außer seiner Frau. In seinen letzten Lebensjahren fühlte er sich einsam.

Alles, was den Autorinnen der Biografie zu Bert und der DGfS einfiel, passt in 7,5 Zeilen. Ein Drittel davon wird allein von den Namen der Organisationen gefüllt. All die Jahre mit den anderen Aufstellern, die seine Arbeit weitertrugen, sind in fünf Zeilen des Buches gepresst! Und was sie mitteilen, ist auch noch falsch! Der Absatz lautet:

„Auch von den Mitgliedern der 2004 gegründeten Deutschen Gesellschaft für Systemaufstellungen (DGfS), an der ich mich nicht beteiligte, sah und hörte ich in der Folgezeit nichts mehr. Dabei war die DGfS aus der 1996 von mir initiierten Internationalen Arbeitsgemeinschaft Systemische Lösungen nach Bert Hellinger (IAG) hervorgegangen. Nach meinem Namen sucht man in der Tätigkeitsbeschreibung der DGfS jedoch vergebens.“

Die Behauptung, Bert habe nach 2004 nichts mehr von den Systemaufstellern gehört, ist sachlich falsch. Tatsächlich beteiligte sich Bert noch 2005 am Kongress der DGfS in Köln. Bis 2007 gab es auf jeden Fall noch Gespräche zwischen beiden Seiten.

Falsch ist weiter die Behauptung, Bert habe die Gründung der IAG “initiiert”. Das hat er nicht, und das hätte er auch nie behauptet. Er war an der Gründung von Organisationen nie interessiert. Die Gründung der IAG ging von Gunthard Weber und Jakob R. Schneider aus.

Es stimmt auch nicht, dass man Berts Namen bei der DGfS, etwa auf ihrer Webseite, vergebens suchen würde. Zum Beispiel steht dort unter der Überschrift Die Entwicklung der Aufstellungsarbeit: “Die Deutschen Gesellschaft für Systemaufstellungen (DGfS) entstand aus der Internationalen Arbeitsgemeinschaft Systemische Lösungen nach Bert Hellinger (IAG). Obwohl Bert Hellinger der Begründer der Arbeit mit Familienaufstellungen war, beteiligte er sich nicht mehr an der Umwandlung in den DGfS Mitgliederverein.”

Das Lamento der Biografie-Autor/innen gegenüber der DGfS, “nach meinem Namen sucht man jedoch vergebens”, ist also unbegründet. Es verwundert umso mehr, wenn man bedenkt, wie andere Organisationen aus dem Hause Hellinger mit rechtlichen Schritten bedroht werden, gerade weil sie den Namen Bert Hellinger in ihrem Titel führen.

Die Anfeindungen

Die Anfeindungen gegen Bert von 2003/2004 müssen in seiner Biografie natürlich erwähnt werden. Tatsächlich geht es in der Biografie aber fast nur um Arist von Schlippe, weiland Vorsitzender der Systemischen Gesellschaft. Er wird dort als der Schurken übelster dargestellt: “Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, meldete sich 2004 auch noch Arist von Schlippe zu Wort”.

Auf 25 Seiten wird der Streit mit den Systemikern von damals verhandelt, vor allem von Schlippes Offener Brief sowie einige Repliken zu Berts Verteidigung. All das bleibt auf der Ebene “Wer hat Recht?”. Wer braucht das heute noch? Bert nicht. Doch nun heißt es in der Biografie: “Meine Frau Sophie drängte mich, gerichtlich dagegen vorzugehen. Doch ich wollte das damals nicht. Heute, nachdem ich über Jahre hinweg die Auswirkungen dieser Hetzkampagne beobachten durfte, halte ich es allerdings anders.” (S. 271) Isoliert betrachtet, klingt das nachvollziehbar: Irgendwann reicht’s.

Aber welche Auswirkungen hätte der Autor denn neuerdings beobachtet? Die Biografie hat nur ein einziges Beispiel: Einer der notorischen Hellinger-Hasser schrieb 2018 in einem Buch, Bert sei verstorben. Das war falsch, ist aber eigentlich nicht ehrenrührig. Ich habe weiß Gott schon Schlimmeres über Bert gelesen. Der Rest, der in der Biografie erwähnt wird, sind alles alte Kamellen.

In der Biografie behauptet der Ich-Erzähler: “Alles, was mich in dem richtigen und auch in einem guten Licht zeigte, wurde nicht zur Kenntnis genommen. Man hätte ja sonst einen Fehler zugeben müssen. Stattdessen machte man weiter wie bisher. Das war auch bei Arist von Schlippe der Fall.”

Dass von Schlippe sich geweigert hätte, einen Fehler zuzugeben, ist nicht wahr! Seiner Sammlung von Offenem Brief und Antworten darauf setzte er voran: “Im Nachhinein stimmen natürlich die Vorwürfe, dass ich mich hätte besser informieren müssen”. Und ebendort stellt er auch klar: “Für mich ist Bert kein Nazi, auch kein Faschist und sein Denken kein Wegbereiter ‚brauner’ Weltanschauung.” Es hätte der Biografie gut angestanden, das anzuerkennen.

Das Etikett

Auf dem Umschlag der Biografie ist Berts Portrait ein Etikett aufgedruckt. Das hätte Bert nicht gefallen. Etiketten definieren. Auf Deutsch: Sie setzen Grenzen. Jedes Etikett, selbst wenn seine Botschaft sachlich richtig wäre (was sie nicht ist), macht enger, kleiner, weniger. Mit diesem Etikett wird Bert Gewalt angetan.

Seit etwa 2000 ging sein Blick über das Familienstellen hinaus. Auf dem Kölner Kongress 2005 hielt Bert einen Vortrag, machte aber keine Aufstellung. Antje Jaruschewski berichtete damals in der Praxis der Systemaufstellung: “Schließlich wurden wir freundlich von ihm in die Pause verabschiedet mit dem sinngemäßen Hinweis, dass es Größeres gebe als das Aufstellen und dass Samstag ja auch noch ein Tag sei.” Dieses Größere war es, was Bert interessierte! Das Aufstellen interessierte ihn zunehmend nur noch, insofern es zu diesem Größeren hinführte.

Das Etikett passt nicht zu Bert, aber es passt zu dieser Biografie, die Bert darauf reduziert, “Begründer der Familienaufstellung” zu sein. Und das ist er nicht einmal. “Familienaufstellung” ist ein Fachbegriff für die Aufstellungen, wie sie schon vor Bert in der systemischen Familientherapie angewandt wurden. Bert ist der Begründer des phänomenologisch-systemischen Familienstellens, kurz: des “Familienstellens nach Bert Hellinger”.

Phänomenologie

Dem Konflikt mit den konstruktivistischen Systemikern, um den es im Kapitel Die Anfeindungen” im Wesentlichen geht, liegt zu Grunde, dass Berts phänomenologische Vorgehensweise mit der Arbeitsweise der systemischen Familientherapeuten und ihren “therapeutischen Standards” nicht in Einklang zu bringen ist. Hier verläuft eine objektive Scheidelinie.

Jeder konnte sehen, dass Berts Arbeitsweise – sagen wir: sehr unorthodox war. Aber kaum jemand verstand, damals wie heute, was genau er mit “phänomenologischer Vorgehensweise” meinte. Es ist schwer zu verstehen, und Bert hat es seinen Zuhörern oder Lesern auch nicht leicht gemacht. Hier hätte die Biografie eine Aufgabe gehabt. Doch das Wort phänomenologisch habe ich darin nur an einer einzigen Stelle gefunden: “Ich bin rein phänomenologisch vorgegangen, das heißt, ich habe mich ausschließlich daran orientiert, was sich bei Aufstellungen immer wieder zeigte und sich dadurch verifizierte.”

An dem Beispiel ist auch etwas Richtiges. Es ist aber nicht geeignet, Phänomenologie zu erklären. Denn die Erkenntnis der Gesetzmäßigkeiten, die in Systemen wirken, kommt aus der Beobachtung regelhaft wiederkehrender Phänomene. Beobachtung ist aber nicht Wahrnehmung im phänomenologischen Sinn! Wahrnehmung macht sich gerade nicht an den beobachtbaren Phänomenen fest, sondern nimmt etwas wahr, das hinter ihnen als Wesentliches verborgen ist.

Auf 25 Seiten wird in der Biografie der alte Streit mit den Systemikern verhandelt. Für Berts Konzept des phänomenologischen Familienstellens hat die Biografie ganze drei (und noch dazu untaugliche) Zeilen. Das wirft natürlich Fragen auf! Vor allem: Ob die Autorinnen es nicht besser können oder ob sie es nicht wollen.

Berts philosophisches Werk

Im Jahr 2013 sagte Bert über sich und seine Arbeit: “Was hat mich zu dem gemacht, was ich jetzt bin? Als erstes: Ich bin ein Philosoph, kein Familiensteller. Ich bin ein Philosoph. Alles, was ich getan und geschrieben habe, ist Philosophie. Es ist die Anwendung einer philosophischen Methode. Und diese Methode heißt Phänomenologie. Das ist eine Vorgehensweise, ohne dass es ein Ziel gibt.”

Außerdem schrieb Bert seit Mitte der 2000er Jahre zahlreiche kleine philosophische Betrachtungen. Von dieser Aufgabe war er zunehmend in Anspruch genommen. Er schrieb diese Geschichten in großer Fülle, schneller, als ich lesen konnte. Er selbst sagte über diese Geschichten, sie “brauchen Zeit, um sich zu erschließen. Sie verlangen nach Zwischenpausen.” Genau so geht es mir, wenn ich sie lese, immer noch: Zwei, drei Seiten, dann reicht’s erstmal. Anderen Lesern wird es genauso gegangen sein. Bücher von dieser Art kann man nicht eins nach dem anderen lesen.

Bert veröffentlichte in 25 Jahren an die 100 Bücher. Zur Hälfte sind das Bücher über die Aufstellungsarbeit, Transkripte von Seminaren oder Bücher über jene Gesetzmäßigkeiten, welche in Beziehungen wirken. Die andere Hälfte seiner Bücher sind philosophischer Natur, vor allem Sammlungen kurzer Betrachtungen.

Wenn man auch seine Vorträge während der Aufstellungs-Seminar berücksichtig, besteht die Hälfte von Berts Werk aus philosophischen Betrachtungen und Einsichten. Man wird kaum fehlgehen, wenn man annimmt, dass dieser Aspekt seines Lebens Bert wichtig war. Hätte er diese Biografie selbst verfasst, hätte er dem auch angemessenen Raum gegeben. Und wie ist die Wirklichkeit? Nicht ein Kapitel dazu habe ich gefunden. Nicht eine Seite. Keine einzige Zeile.

Wozu dient das Buch?

Warum steht in dieser Biografie so viel Falsches? Warum wird Berts Werk dort auf das Familienstellen reduziert? Aus dem Inhalt des Buches selbst ergeben sich nur wenige Hinweise:

Im Vorwort steht: “2018 habe ich meine sämtlichen beruflichen Aktivitäten wie die Hellingerschulen und den Verlag Hellinger Publications meiner Frau Sophie übertragen.” Am Schluss des Buches steht das Gleiche noch mal. Aber was genau heißt denn “Aktivitäten übertragen”?

War Bert denn in den letzten 10 Jahren im hauseigenen Verlag aktiv – außer, dass seine Texte dort veröffentlicht wurden? Die technischen Verlagsarbeiten wurden stets von Angestellten des Hellinger-Büros erledigt. Und die Hellingerschule? Die Biografie sagt an anderer Stelle: “Im Jahr 2013 eröffnete Sophie Erdödy in Bad Reichenhall eine Hellingerschule, in der die Familienaufstellung gelehrt und praktiziert wurde.” Und drei Seiten später: “Sophie hatte durch ihre Hellingerschule eigene Gefolgsleute.” Ihre Hellingerschule, nicht seine!

Ein dreiviertel Jahr nach Erscheinen der Biografie starb Bert. In ihrem Nachruf auf Bert erklärte Sophie Hellinger: “Mir hat er die gewaltige Aufgabe übergeben und hinterlassen, seinen Auftrag und sein Werk fortzuführen.” Das kann man nun glauben oder auch nicht.

Von was für einem “Auftrag” wäre denn da die Rede? Bert sprach davon, “von einer anderen Kraft in den Dienst genommen” zu sein. In seinem Verständnis würde es sich also um einem Auftrag “von oben”, aus der geistigen Welt handeln. Könnte jemand solch einen Auftrag an eine andere Person weiterreichen? So hätte Bert nicht gedacht.

Und sein Werk? Was wäre das denn? Natürlich denkt jeder zuerst an das Familienstellen. Genau diese Sichtweise wird von der Biografie auch bedient. Doch Bert sagte unmissverständlich: “Ich bin ein Philosoph, kein Familiensteller”. Seine Orientierung hat sich seit 2000 fortwährend in eine andere Richtung verschoben, weg vom therapeutischen Familienstellen, hin zu dem, was er als “andere Dimension” umschrieb. Das geistige Familienstellen geht natürlich in diese Richtung. Die Biografie folgt dieser Richtung jedoch nicht.

In seinen letzten drei Lebensjahren hat Bert, sowohl in persönlichen Gesprächen als auch öffentlich, von seiner unmittelbaren geistigen Beziehung zu Jesus gesprochen. Bei seinem letzten öffentlichen Seminar in Cancun, Mexiko 2017, rief er während einer Aufstellung: “Wo ist Jesus? Jesus ist nicht hier! Das hier ist alles nur Theater!” Und genau das würde er über diese Biografie auch sagen: Jesus kommt darin nicht vor.

In Sophies E-Mail, die am Tag nach Berts Tod verbreitet wurde, finden wir darin die Aussage: “In tiefer Dankbarkeit blicke ich auf das Geschenk, das er mir als seiner Frau gemacht hat: Ich durfte über Jahre hinweg mit ihm in Liebe verbunden sein, von ihm lernen und mit ihm zusammen das Familienstellen zum Original Hellinger Familienstellen weiterentwickeln. Mir hat er die Weiterführung seiner Arbeit als Vermächtnis hinterlassen.”

Dass Sophie Berts Nachfolge von für sich beanspruchen würde, war seit vielen Jahren absehbar. Aber müssen wir an diesem Vermächtnis zweifeln? Es könnte schließlich so gewesen sein! Beweisen lässt sich das eine so wenig wie das andere. Doch man darf schon erstaunt sein: Nicht etwa allen Aufstellern auf der Welt sollte Bert “die Weiterführung seiner Arbeit als Vermächtnis” hinterlassen haben? Nur einer einzigen Person, “mir”, Sophie?

Wenn da jemand kleinlich-juristisch eingestellt wäre, könnte er nun fragen: “Liegt dieses Vermächtnis zufälligerweise in schriftlicher Form vor?” Ja, und da käme dann die angebliche Autobiografie ins Spiel – als wäre sie genau für diesen Zweck geschrieben worden!

“Original Hellinger Familienstellen”?

Das Letztere würde also erklären, warum diese Biografie eingerahmt ist von der Erzählung, dass Bert, im Bewusstsein, das seine Kräfte schwinden, all seine Aufgaben an Sophie übertragen hätte. Es erklärt aber nicht, warum das alte, systemische Familienstellen 70 Seiten Raum, sein neues, geistiges Familienstellen hingegen nur 8, und warum auf diesen 8 Seiten das alte Familienstellen dargestellt, aber als “Neues” verkauft wird.

Auch dafür finde ich eine Erklärung nur außerhalb der Biografie, in der wirklichen Welt. Was da zählt, ist der Umstand, dass sich das alte, systemische Familienstellen als therapeutisches Instrument weltweit gut vermarkten lässt. Vor allem, wenn man den Namen Hellinger besitzt.

Nicht gut vermarkten lässt sich Philosophie. Der phänomenologische Erkenntnisweg ist kein Geschäft. Wenn man davon ausgeht, dass diese Biografie ein Werbemittel für Sophies Hellingerschule ist, dann ist es nur logisch, dass Bert in diesem Buch auf den Begründer des Familienstellens reduziert wird. Philosophie, Jesus, das macht nur Ärger und bringt nichts ein. Die Worte “phänomenologisch” und “neues Familienstellen” kommen dort zwar noch vor, sind aber inhaltslose Phrasen, Reklame-Floskeln.

Sophie behauptete in ihrer Mail gleich nach Berts Tod, sie habe “mit ihm zusammen das Familienstellen zum Original Hellinger Familienstellen weiterentwickelt”. Was, bitte, soll das denn sein? Frau Google, die sonst so vieles weiß, findet hierfür einen einzigen Eintrag, und zwar auf der Webseite hellinger.com. Dort steht ein mittelprächtiger Werbe-Text, den fast Aufsteller auf seine Webseite schreiben könnte: “Durch die Befreiung der alten unbewussten Bindungen werden wahre Liebe, Zuwendung, Achtsamkeit, Respekt und Träume Wirklichkeit,” und so weiter und so fort.

Da ist auch nicht die Spur einer Andeutung, was dieses Original Hellinger Familienstellen von anderen Formen des Familienstellens unterscheiden würde. Nur das “®”, das besagt, das der Hellinger ein eingetragener Markenname ist, ist insofern eine Unterscheidung, als niemand anders als Sophie Hellinger den Namen als Markenbezeichnung verwenden darf. Doch wenn man nach inhaltlichen Unterscheidungen fragt – da gibt es nichts, einfach nichts.

Bert hat sich stets geweigert, das Familienstellen rechtlich als Marke für sich zu beanspruchen. Es sollte ungebunden hinaus in die Welt gehen und seinen Weg finden. Er hat sein Werk geschützt, indem er ihm zugetraut hat, auch ohne ihn allein zurecht zu kommen, zu wachsen und zu gedeihen.

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Dieser Artikel ist eine gekürzte Fassung. Der vollständige Text (mit allen bibliografischen Angaben) kann beim Autor als PDF-Datei angefordert werden (und ist hier weiter unten zu lesen. – die Redaktio)

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Auf Bert Hellinger bin ich 1999 aufmerksam geworden, als ich einen fotokopierten Artikel über ihn zu lesen bekam. Der Mann schien interessant zu sein – und das war er auch!
Sehr bald erlernte ich selbst das Familienstellen nach Hellinger bei Bertold Ulsamer.

Es folgte die Zeit der Hetz-Kampagne gegen Bert und das Schisma der Aufsteller-Bewegung. Ich begann, Bert gegen alle Angriffe zu verteidigen – heute würde ich sagen: manchmal wie ein Kreuzritter für den wahren Glauben. Warum? Schwer zu sagen. Ich musste es einfach, ich konnte nicht anders.

Später sah ich mich mehr als Berts “Übersetzer ins Deutsche”. Was er in seinen letzten zehn Jahren machte und vortrug, war und ist für viele schwer zu begreifen, und von ihm selbst gibt es praktisch keine systematischen Darlegungen. Die Aufstellungsarbeit nach Bert Hellinger beschäftigt mich seit Jahren jeden Tag meines Lebens.

Thomas Gehrmann (* 1952), Aufsteller und Autor mehrerer Bücher zum Thema, teilweise zusammen mit Ursula Steinbach. Keine Webseite. Kontakt über das untenstehende Formular an die Redaktion oder E-Mail: gehrmann-kassel@web.de


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