Der Intuition vertrauen – Ein Lernprozess
von Lisa Böhm-de Philipp
In der Diskussion um die Kriterien, die bei einer Weiterbildung für systemische Aufstellungen vermittelt werden sollen und die ihnen Qualität verleihen, sind die Bereiche gefragt, die klar beschrieben werden können und auch die, die sich wissenschaftlich analysieren und erforschen lassen. Schwieriger wird es mit den Bereichen, die auch als wesentliche Bestandteile mitschwingen und denen trotz allen Bemühens um Klärung etwas Geheimnisvolles anhaftet. Zu ihnen gehört der Bereich oder der Begriff Intuition, der inhaltlich vieldeutig ist und im Sprachgebrauch verschwommen benutzt oder völlig gestrichen und auf vielfältige Weise umschrieben wird.
Als persönlich Betroffene, der immer wieder eine hohe Intuition attestiert wurde und die in Bezug darauf bewundernde und eine Reihe von unangenehmen und auch abwertenden Erfahrungen gemacht hat, habe ich mich immer wieder gefragt, warum es problematisch ist, intuitiv zu sein, das intuitiv Wahrgenommene oder Entschiedene zu beschreiben und Intuition als selbstverständlich zu betrachten. Gleichzeitig rührt sich in mir noch heute die Rebellin, wenn ich nur ansatzweise mitbekomme, dass Intuition nicht den anderen Bereichen, wie zum Beispiel der Denk- und Kommunikationsfähigkeit, gleichgestellt ist oder die ihr gemäße Anerkennung findet, auch wenn sich wissenschaftliche Belege dafür in Grenzen halten.
Gerne habe ich In der letzten Ausgabe der Praxis der Systemaufstellung den umfassenden Text zum Thema von Markus Hänsel gelesen, der alles enthält, was aus meiner Sicht grundsätzlich wissenswert ist und auf den neuesten Stand der Erkenntnisse bringt. Dieser Text befriedigt meine rationale Seite voll und ganz, denn er leuchtet nach vielen Seiten aus, klärt und vermittelt damit Sicherheit.
Auch die Selbstbeobachtung, dass Intuition eine Form von Wahrnehmung und Informationsverarbeitung ist und Entscheidungen wie mit einem inneren Kompass steuert, führen letztlich zu einer wertschätzenden Haltung. Dass sie sich aus einer Stille heraus besonders gut entfalten kann, dass sie Analyse, Kontrolle, Hinterfragen und Versprachlichung scheut und vor zu viel Eindrücken und Informationen geschützt werden will, ist hilfreich. Dass sie im Kontakt mit der Außenwelt Stimmungen, Gefahren, eine Atmosphäre aufnimmt und bei Menschen deren Körpersprache wahrnimmt, das nicht Gesagte hört und zwischen den Zeilen liest, ist eine weitere Beobachtung. In den Beschreibungen als innere Stimme, innerer Kompass, Bauchgefühl, Eingebung, Ahnung, Gedankenblitz, als undefinierbares Gefühl, Stimmigkeit, Instinkt wird erkennbar, dass sie auf der körperlichen, geistigen und emotionalen Ebene wahrgenommen wird. Dass sie verbunden ist mit dem vergangenen Unbewussten, mit dem unmittelbar Gegenwärtigen und dem vorausahnend Zukünftigen ist eine weitere Erkenntnis.
Wenn es also für das nicht Fassbare keine Worte gibt, intellektuelle Erklärungen nur eine Annäherung und eine Orientierung geben, die wissenschaftliche Forschung an Grenzen stößt, was braucht es dann, um ihr einen würdigen Platz zu geben? Es gibt darauf nur eine Antwort: Vertrauen. Und gleichzeitig weitere Fragen: Wie vertraue ich? Ist Vertrauen erlernbar? Und welche Wirkung hat es auf den Umgang mit den Klienten oder den Stellvertretern in der Aufstellung, wenn ich ihrer Intuition vertrauen kann?
Der eigenen Intuition zu vertrauen und mit der von Anderen wohlwollend aber auch abgrenzend umgehen zu können, hängt meines Erachtens stark davon ab, welche Klarheit ich in Bezug auf meine persönlichen Erfahrungen mit der Intuition habe und wie meine Beziehung zu diesem Teil in mir ist. Dem Körperwissen, dem eng mit der Intuition verbundenen zuverlässigen Nachrichtengeber, der Seele und dem Geist zu vertrauen, bedarf einer Bewusstwerdung. Dazu gehört auch die Fähigkeit, das extrahieren zu können, was in meiner Entwicklung hilfreich und stärkend war und was nicht. Weitere Fragen sind für mich: Ist Intuition angeboren? Ist sie durch Prägung, Umwelt, Erziehung, Bildung veränderbar? Entwickelt sie sich auch ohne Angebote von außen oder auch in Situationen kindlicher Not?
In einer Rückschau die vertrauensbildenden Situationen zu erinnern und aneinanderzureihen, ergibt eine Beschreibung des eigenen intuitiven Werdegangs. Auch bei den zunächst als schwierig erlebten und interpretierten Stellen kann ein Lerneffekt erkannt werden, wenn der Fokus entsprechend gelenkt ist. Zusammengetragen wirken die persönlichen Erfahrungen als Ressourcen und dienen der Stärkung der gesamten Persönlichkeit. Die Chance ist hoch, dass Intuition zu einem selbstverständlichen Teil wird, der überzeugt und dem man vertrauen kann. Nicht nur, es führt auch zu einer differenzierten Sicht auf die an die Intuition angrenzenden Bereiche, die Intuition benannt werden, aber eigentlich Projektion, Übergriff, phantasierte Hellseherei, Schwarzmalerei und anderes sind.
Für die Begleitung von Aufstellungen kommt hinzu, dass intuitive Wahrnehmungen nicht nur wertgeschätzt, sondern auch immer wieder versprachlicht werden müssen. Dabei einerseits in der Wortwahl genau zu sein und zu hinterfragen, wie etwas gemeint ist und andererseits Beschreibungen so stehen zu lassen, wie sie sind ist eine Kunst und Herausforderung für den Aufstellungsleiter. Vor allem aber ist auch daran zu denken, dass oft die Worte fehlen, um zum Beispiel eine Schwingung, Resonanz, Energie zu beschreiben und gegebenenfalls dem Klienten dabei Hilfestellung zu geben.
Dem Aufstellungsleiter begegnen in der Gruppe unterschiedliche Typen von Stellvertretern: die einen, die Intuition als selbstverständlichen Teil der Wahrnehmung, der Verarbeitung und des spontanen Entscheidens und Handelns in sich tragen und auch als innere Vorgänge beschreiben können, die anderen, die bevorzugt anders wahrnehmen, verarbeiten und entscheiden, nämlich sensorisch, sinnlich (mit allen Sinnen), diskursiv reflektorisch, verlangsamt und sich Zeit lassend. Es ist aber auch mit denen zu rechnen, die unbewusst diese Fähigkeit haben ohne sie so zu benennen, oder auch solchen, die aufgrund von unangenehmen Erfahrungen oder Traumatisierungen den selbstverständlichen Zugang zu dieser Fähigkeit verloren haben. Und nicht zuletzt gibt es diejenigen, die aus welchen Gründen auch immer Intuition als ein überdimensional großartiges Talent sehen und überbetont ihren Platz im Gruppenprozess haben wollen.
Die Aufgabe für den Aufstellungsleiter ist, allen ruhig, gelassen, wohlwollend und raumgebend begegnen zu können und letztlich damit auch den für den Gruppenprozess größtmöglichen Nutzen zu haben.
Jeder hat seine eigene Historie in Bezug auf die Entwicklung seiner Intuition. Dies ist kein Text, der alle Aspekte berücksichtigen kann, aber Beispiele aufzeigt, die bei der Rückschau empfehlenswert sind. Dabei können folgende Fragen hilfreich sein: „Wie habe ich Intuition kennengelernt und erlernt? Welche Erfahrungen habe ich persönlich gemacht? Was habe ich bei Anderen beobachtet? Welcher „Wahrnehmungs- Verarbeitungs- und Entscheidungs-Typus“ ist aus mir geworden? Wie agiere und reagiere ich im Stress, der ganz unmittelbar meine hellste und dunkelste Seite ans Licht bringt oder mich in Extreme treibt? Wie gut kann ich mich entspannen, um auch die Vorgehensweise von Anderen sein lassen zu können, wie sie ist?“
Es erscheint mir sinnvoll, sich bei der Rückschau auf vier Schwerpunkte zu konzentrieren:
Intuition und Wachstum
Intuition wächst, ob wir das wollen oder nicht und ob wir das bemerken oder nicht. An der Entwicklung sind mehrere Gehirnbereiche beteiligt und interessant ist zu wissen, dass dieser Teil in frühen Zeiten der Menschheitsgeschichte dazu diente, um Gefahren zu erkennen und Nahrung, Heilmittel und Wasser zu finden. Jedem ist Intuition in die Wiege gelegt, so dass es auch darum geht, dass die Haltung oder Einstellung zur Intuition wächst und sich entwickelt.
Das Kind kommt zum ersten Mal im Mutterleib damit in Kontakt, wenn die Mutter auf die Zeugung und Schwangerschaft mit „Willkommen“ reagiert oder ihre Bedenken hat. Unabhängig von ihrer ersten Reaktion beginnt sie intuitiv das für sie Richtige und Stimmige zu tun oder eben nicht. Natürlich ist auch der Vater beteiligt, aber durch den unmittelbaren Körperbezug zwischen Mutter und Kind ist die Erfahrung mit der mütterlichen Intuition vorrangig. Die Erfahrungen bei und unmittelbar nach der Geburt spielen genauso eine große Rolle wie alles im ersten Lebensjahr, in dem die Mutter (auf jeden Fall bei ihrem ersten Kind) in vielen Punkten intuitiv entscheidet und handelt ohne zu reflektieren oder sich auf persönliche Erfahrungen als Mutter zu beziehen. Das Baby erfährt, wie die Mutter in allen Situationen entscheidet, wie Verständigung ohne Sprache möglich ist und wie die Mutter mit sich selbst und ihrem intuitiven Teil umgeht: von sich überzeugt, dass sie das für sie Stimmige tut oder unsicher und selbstzweifelnd und anfällig für die hundert Ratschläge von Anderen. Möglicherweise ist sie zusätzlich in einem Perfektionszwang gefangen.
Vor allem aus dieser Zeit stammen auch die im Körper gespeicherten Erfahrungen und Bilder, die, ins Unbewusste abgesunken und später aktiviert, unser Verhalten steuern. So kann das Körperwissen unser zuverlässigster Nachrichtengeber sein, aber auch zum größten Irrläufer werden, wenn diese ersten kindlichen Erfahrungen nicht differenziert oder gefiltert werden können.
Intuition und Entfaltung
Das Kleinkindalter ist die Zeit, in der sich Intuition weiter entfalten kann, je nachdem wie das Umfeld damit umgeht: selbstverständlich, offen, neugierig interessiert, bewundernd erstaunt, neutral kommentierend mit „Aha“, bewertend oder reglementierend einschränkend, „So ein Quatsch“ oder „Mach das jetzt mal so“.
Was bei der Entfaltung von Intuition begünstigend wirkt, ist das Zeit haben, eine mangelnde Ablenkung, ein leerer Raum, Stille und die Langeweile. Die Langeweile zulassen und anschauen ermöglicht, dass dann aus dem Nichts eine Idee zu-fällt, eine innere Stimme oder ein Gefühl auftaucht und daraus dann ungewöhnliche Assoziationsketten, Fantasien, kreative Spielfolgen und Rollenspiele entstehen. Der leere Raum dient nicht nur der Intuition, sondern auch der Kreativität, wenn dann Gegenstände aus dem Haushalt oder der Spielekiste die ursprüngliche Funktion verlieren und in eine andere gewandelt werden. Solche Spielsequenzen sind spürbar leicht und häufig von Schmunzeln und Lachen begleitet.
Ein weiteres intuitionsförderndes Angebot sind Geschichten oder Märchen, die von den Eltern und Großeltern erzählt oder vorgelesen werden.
Entfaltung von Intuition braucht Weite, Raum, Zeit und Stille oder einen Input, der gleichzeitig die Fantasie und Kreativität anregt. Dazu gehören natürlich auch Musik machen oder hören, singen, tanzen, malen und basteln, wenn sie ohne Leistungsdruck angeboten werden. Ob sich Bezugspersonen auf diese Ebene einlassen können und wollen ist eine Frage der persönlichen, alltäglichen, milieubedingten und gesellschaftlichen Bedingungen. Ob in einem bewertungsfreien Raum das freie Spiel sein kann, ob es Raum für den „Zu-fall“, für Kuriositäten, Unlogisches und den Humor gibt, ist unter anderem auch eine Frage des Erziehungsstils und der Einstellung zu Erziehungszielen und Methoden.
Intuition und Erziehung
Die Entfaltung erfährt häufig ihre Begrenzung durch die Erziehung, durch bewusst gesetzte Erziehungsziele, aber auch unbewusste Präferenzen der Bezugspersonen (Eltern, Großeltern, Erzieher, Lehrer) Entweder ist ihnen das ein Anliegen oder nicht. Stehen Leistung, Kontrolle und Disziplin im Vordergrund geht das meist auf Kosten der intuitiven und kreativen Seite, die mehr in einer Atmosphäre gefördert wird, in der Lust und Unlust ihren Platz haben. Wird allerdings die Förderung eines außerordentlichen Talents zu einem ehrgeizigen Projekt, ist der Leistungsdruck nicht weit. Zusammenfassend ist die Frage, ob ein Kind in diesem Punkt unterstützt, bestärkt, gefördert, anerkannt, gelobt oder belächelt, abgewertet oder gar bestraft wurde.
Intuition und Erziehung in der Krise: Trotzalter und Pubertät
Entscheidend für die Intuitionsentwicklung sind auch die Krisenzeiten, wie zum Beispiel die Trotzphase, in der die Kinder ihre Grenzen und die der anderen ausprobieren oder ausloten. Intuitiv können sie die Bezugspersonen an ihren Schwachstellen erwischen als wären sie in der Lage den Wesenskern zu schauen. Die Reaktion darauf ist nicht selten Ärger und bewirkt entweder erhöhte Strenge und Aktivität, aber manchmal bei den Erziehenden auch das Gefühl von Ohnmacht, einem Innehalten und einem daraus entstehenden kreativen Lösungsangebot. Welche Erfahrungen gab es also in der Trotzphase beim Kind selbst und im Erleben der Erwachsenen.
Die Pubertät ist die zweite Krise, die beide Seiten über alle Maßen beanspruchen kann. Die Jugendlichen in ihrem gesamten hormonellen Umbau und nicht wissend wohin, stellen intuitiv die Eltern vor Herausforderungen, die mit Grenzen setzen zu tun haben. Gleichzeitig wollen Eltern meist nicht den Kontakt verlieren. Ein Fingerspitzengefühl und die Intuition sind hilfreiche Ratgeber, um stimmige Reaktionen zu akzeptieren, für die auch Verantwortung übernommen werden kann, bevor die Situation eskaliert.
Intuitiv gefällte Entscheidungen sind sekundenschnell, von einem inneren Impuls unausweichlich gesteuert und genauso blitzartig ausgesprochen. Erst im Nachhinein stellt sich manchmal heraus, dass es mutig war, manchmal auch gefährlich oder gar unpädagogisch so zu reagieren. Diese spontanen Reaktionen sind dann befriedigend, wenn sie begleitet sind von Empathie und Einfühlungsvermögen. Dann kann die erforderliche Grenze gezogen werden, das stimmige Wort in einer entsprechenden Stimmlage und mit einer passenden Mimik gesprochen werden. In vielen Fällen ist es dann so, dass sich danach das Miteinander respektvoller ist.
In der Erziehung sind also positive Verstärkung und Vorbilder begünstigend für die intuitive Entwicklung. Aber auch wenn Bezugspersonen besonders streng oder überhaupt nicht vorhanden waren, entwickelt sich Intuition weiter. Denn in schwierigen Situationen, wenn sich zum Beispiel Eltern häufig streiten oder innerlich nicht anwesend sind oder ein Elternteil fehlt, beginnt das Kind intuitiv die Atmosphäre auszuloten, um sich in der Situation zu orientieren, auf irgendeine Weise einzubringen oder sich zurückzuziehen.
Insbesondere im letzten Fall hat das Kind zunächst kein direktes Feedback, aber es erlebt Wirkungen und mit zunehmendem Alter kann es sie auch einordnen. Der Vorteil ist, dass seine Wahrnehmungen nicht mit richtig oder falsch bewertet werden, sondern es sich selbst bestätigt oder nicht.
Zu den altersbedingten Krisen kommen noch die durch besondere Ereignisse herbeigeführten Brüche in der Entwicklung hinzu: Schicksalsschläge, Krankheiten Todesfälle, Katastrophen. Häufig ist in solchen Situationen intuitives Vorgehen die Folge, aber es gibt natürlich auch die andere Seite, dass sich Kontrolle, Anpassung und Überlebensstrategien als praktikabler erweisen.
Intuition und Bildung
Der letzte Punkt der Rückschau bezieht sich auf die Bildung, ganz allgemein und professionell. Bildung entsteht durch geistige Auseinandersetzung und durch Erkenntnisse aus den Wissenschaften. In Bezug auf Intuition wird man insbesondere in der Philosophie, der Psychologie, der Hirnforschung und der Kognitionsforschung fündig.
Eine interessante Quelle sind auch die Naturwissenschaften, denn nicht selten ist der entscheidende Punkt für eine wesentliche Erkenntnis oder eine Erfindung bei aller detaillierten Vorarbeit ein intuitiver Moment oder ein Zu-fall.
Und ebenso interessant ist auch das Studium der Geschichte, vor allem das von Biografien, weil dort so viele Beispiele für lebensverändernde und geschichtsrelevante Entscheidungen aufgrund von Intuition zu entdecken sind.
Die professionelle Bildung hält sich begrenzt, wenn es darum geht Intuition zu fördern. Schon unser Schulsystem ist eher auf die Entwicklung intellektueller Fähigkeiten fokussiert, die bewertet werden. Schnell vergessen sind die ersten beiden Schuljahre, in denen keine Noten vergeben werden und stattdessen im Zeugnis die Entwicklung der Persönlichkeit beschrieben wird.
Bei den Berufsausbildungen ist das nicht viel anders. Der Gedanke ist eher, entweder man ist intuitiv oder nicht und schließlich gibt es ja Berufe, in denen Intuition ihren Platz hat, wie zum Beispiel als Musiker, Künstler, Schauspieler und andere.
Ansonsten kann man sich alternativ in Kursen und Workshops individuell darum kümmern. Und so werden Räume für Bewusstwerdung und Stille angeboten, die eigentlich etwas nachholen, was in der Kindheit und in der Erziehung versäumt wurde: Sich einlassen können auf Zeit, Raum und Stille anzubieten, Nichtwissen, Nichthandeln, Nicht-verändern-wollen zu gewähren, die Wahrnehmung nicht materieller Ebenen anzuerkennen, Vertrauen in bisher unbewusste Fähigkeiten zu geben.
Zwei weitere Punkte im Umgang mit Intuition sind mir bedeutsam: Die Sprache und die Herzensbildung. Bei der Sprache geht es um einen achtsamen Umgang mit der Macht der Worte, die alles können: verletzen und heilen. Ausdrücklich gelehrt wird es nicht, für nicht beschreibbare innere Vorgänge die passenden Worte zu finden. Und manchmal ist es ein Ringen um Worte und Nuancen und nicht selten sind es Wortneuschöpfungen, die sich als stimmig erweisen. Darum kümmert sich jeder selbst, vorausgesetzt, es ist ihm ein Anliegen in der Begleitung von anderen das passende Wort, den passenden Satz, die passende Anekdote oder Geschichte zum richtigen Zeitpunkt sagen oder erzählen zu können.
Die Herzensbildung, die Fähigkeit zu Empathie, Einfühlsamkeit und der Umgang mit Gefühlen wächst mit den Jahren. All dies scheint eng verbunden mit der Reifung und einer wohlwollenden Menschlichkeit und wertschätzenden Haltung, die in die Weite führen. Genährt wird diese Ebene durch die vielen persönlichen Erfahrungen, in denen es einem warm ums Herz wird, in denen man angerührt oder berührt ist. Die Erinnerungen führen auch hier zunächst in die Familie mit den Eltern, den Geschwistern. Oft sind die Großeltern der herzerwärmende Ausgleich für Eltern, die natürlich auch ihre Kinder lieben, aber, von den alltäglichen Verpflichtungen gestresst, nicht die Zeit für Gelassenheit haben, um allen eigenen Wünschen und Ansprüchen und denen der Kinder gerecht zu werden. Freunde und Freundinnen sind natürlich auch bedeutsam, denn sie sind häufig diejenigen, mit denen mehr Gemeinsamkeit, Gleichklang, Verständnis und Resonanz gespürt wird als mit der Familie oder den anderen Erziehungspersonen. „Geschichtenerzähler“ aus Literatur, Märchen, Romane, Biografien und Filme rühren ans Herz und erwärmen die Seele.
Nicht zuletzt sind es die Helfersituationen, in denen gespürt wird, dass Unterstützung nicht nur das Herz des Geholfenen wärmt, sondern auch das eigene. Dies festzustellen kann privat oder im professionellen Rahmen geschehen. Die Reaktion des Kindes, das mit leuchtenden Augen antwortet, der Nachbarin, die sich über eine kleine Aufmerksamkeit freut und schmunzelt oder der alten Dame, die dankt, weil ihr die Tür aufgehalten wurde, ähneln den Reaktionen der Klienten, wenn sie wohlwollend beachtet und wertgeschätzt werden und Erleichterung spüren.
Als Aufstellerin ist das Feld der intuitiven Erfahrungen groß. Und hier gilt nochmal für mich die ursprüngliche Worterklärung, die man im Lexikon für Intuition findet. Dort steht, Intuition – aus dem Lateinischen kommend – bedeutet: unmittelbares Schauen und eine Situation, einen Sachverhalt, einen komplexen Vorgang ganzheitlich erfassen. Dies entspricht der Beschreibung phänomenologischen Wahrnehmens. Jede Aufstellung kann die intuitive Seite ansprechen und trainieren, sowohl die eigene als auch die der Klienten und die der Stellvertreter. Inmitten der Aufstellung beobachtet und spürt der Aufstellungsleiter ein Spannungsfeld von schnellen und langsamen Wahrnehmungen, Verarbeitungen und Handlungen. Diese Spannung aushalten und sie auch dirigieren zu können, gehört meines Erachtens zu seinen wesentlichen Aufgaben.
Den Zustand der leeren Mitte, in dem Intuition sich entfalten und ihren Platz haben kann, zu erreichen und in der Gruppe zu halten, bedarf einer hohen Konzentration, einer Bereitschaft sich darauf einzulassen und einer Haltung von Nichtwissen, Nichtkommentieren und Nichthandeln und Raum geben. Der Rahmen gebenden Hypothesenbildung steht ein Raum gegenüber, der ermöglicht, sich auf jede Aufstellung neu einzulassen. Die Impulse, die von bereits gemachten Erfahrungen rühren, die Vermutungen wahrzunehmen und dennoch außen vor zu lassen, ist eine Fähigkeit, die trainierbar ist.
Auch wenn viel Praxis hilft, das Vertrauen immer weiter zu entwickeln, scheint es mir sinnvoll auch außerhalb der beruflichen Tätigkeit die intuitive Ebene zu pflegen. Die Natur bietet eine gute Gelegenheit sich an die Kraft der Intuition zu erinnern, sie immer wieder neu zu erfahren bei Spaziergängen und einem absichtslosen Beobachten von Vorgängen, von Farben und Formen, von Geräuschen und Tönen. Die Besonderheit der frühen Morgenstunden, der Abenddämmerung und der Nachtstunden aufzunehmen, sind genauso eine Möglichkeit wie Meditationen oder Yoga und all die vielen Formen von körperorientierter Entschleunigung. Die musischen Betätigungen lassen Intuition als selbstverständlichen Teil erleben und das damit einhergehende Vertrauen ist da, unabhängig, ob es so benannt wird oder nicht.
Mir persönlich hat diese Rückschau und die aufgelistete Auswahl von Aspekten geholfen, um am Ende Bilanz zu ziehen, was aus mir und in diesem Fall aus meiner intuitiven Seite geworden ist und warum und in welcher Weise ich meiner Intuition vertrauen kann. Nicht nur, sondern auch, wann es gut ist, noch andere Entscheidungskriterien mit einbeziehen. Eine vertiefende Erfahrung war dann eine Aufstellung aller inneren Anteile mit Figuren, die meine Persönlichkeit ausmachen. Auf diese Weise wurde nicht nur die Gleichstellung mit den anderen Anteilen sichtbar und erkennbar. Die schweigsamen Figuren standen still und haben gewartet, bis ich alle als gleich-wertig anerkennen, und bereichernd und vertrauensvoll spüren konnte.
Aus dieser Erfahrung resultiert mein letzter Gedanke: Es ist heute üblich, sich bei seiner Vita mit all den Aus-, Weiter- und Fortbildungen und erworbenen Titeln zu präsentieren. Sie sind ein guter Anhaltspunkt für Klienten, um zu entscheiden, an wen sie sich in ihrer Not wenden möchten.
Bisher wird noch viel zu wenig über die Entwicklung der Persönlichkeit geschrieben, die damit zusammenhängt, welche Erfahrungen gemacht oder welche bedeutsamen Themen in einer Selbstreflexion durchgearbeitet wurden. Zu diesen gehören neben der Intuition die Spiritualität und auch die dunkelste Seite in jedem, so wie die Tabuthemen Tod, Sexualität, Angst und das Opfer-Täter-Sein.
Letztlich können das die Kriterien sein, auf die sich der Klient intuitiv verlässt, wenn er nicht nur seine Not, sondern auch seine Seele zu einem Therapeuten oder Berater tragen und sich aufgehoben fühlen will.