Volksmärchen stellen eine in sich geschlossene Ganzheit dar und entsprechen unserer Seele, die eine ebensolche Ganzheit ist. Die Märchen haben sich aus alten Mythen entwickelt, religiösen Geschichten aus der vorchristlichen Zeit. In ihrer Ganzheit wirken sie als ein heilvoller Raum.
Volksmärchen enthalten uraltes Wissen darüber, wie das Leben gelingt. Sie beginnen mit einem allgemein menschlichen Problem. Ein Mensch macht sich auf den Weg, um eine Lösung dafür zu finden. Er ist mutig, hat Vertrauen und Ausdauer. Nach einigen Prüfungen, oft unter Einsatz des eigenen Lebens, findet er die Lösung. Auf diesem Weg lernt er etwas dazu, was ihm zuvor fehlte. Er entwickelt sich so, dass seine innewohnende Ganzheit erblühen kann.
Nicht nur der Protagonist ist wichtig im Märchen. Jede Gestalt und Handlung sind notwendig für den Entwicklungsprozess. Scheinbar geht es um Gut und Böse und um den Sieg des Guten. In diesem Ringen der Kräfte ist eine tiefe Weisheit spürbar, die zu einem wahrnehmenden Bewusstsein führt.
Diese Weisheit wird nicht benannt. Sie kann sich mitteilen in sprechenden Tieren, in Zwergen und alten Männern oder Mütterchen. Rationales und Irrationales weben sich im Märchen ineinander. Der Mensch mit seiner Not wird ernst genommen. Wenn er sich auf den Weg zur Lösung macht, erfährt er oft unerwartet Hilfe.
Die Schwierigkeiten im Märchen – wie im Leben – dienen den Menschen zur Entwicklung. Die Entwicklungsprozesse in den Volksmärchen wirken auf verschiedenen Ebenen: auf der äußeren Beziehungsebene mit konkreten Menschen und auf der inneren Beziehungsebene mit sich selbst. Die spirituelle Ebene durchwirkt und umfasst alles. Sie wird erfahrbar in der Weisheit der Märchen.
Ich stelle ein Märchen gern in mehren Sequenzen auf, dem Verlauf des Märchens folgend. Dazu lese ich vor dem Stellen den jeweiligen Abschnitt vor. Wer eine Resonanz mit einer Gestalt spürt, kann in ihre Repräsentation gehen, im Raum einen stimmigen Platz einnehmen und seine Wahrnehmung mitteilen. Die Beziehungen zwischen den einzelnen Gestalten werden deutlich. Wenn Bewegungen entstehen, kann ihnen langsam gefolgt werden. Nach der Aufstellung spüren die Teilnehmer nach, welche eigenen Themen angesprochen sind. Es können Probleme in der „äußeren Welt“ mit Menschen im eigenen Umfeld sein. Auch innere Probleme, Sehnsüchte, Blockaden und Ressourcen können erlebt und bewusst werden. Die individuelle Entwicklung wird angeregt. Das Märchen spricht das persönliche Unbewusste an, das durch die eigenen Erfahrungen entsteht und das tiefere Unbewusste, das C.G. Jung das kollektive Unbewusste nennt, da es das Wissen der Menschheit enthält. Wie ein tief fließender Strom verbindet es die Menschen mit uraltem Wissen.
Staunend nehmen die Teilnehmer einer Aufstellung immer wieder wahr, dass sie auch auf der spirituellen Ebene angesprochen sind. Die Erfahrung des Großen, das im Märchen als Weisheit wirkt, ermöglicht eine Weitung des Herzens. Die Polarisierung in Gegensätze kann überwunden werden. Hingabe an das Leben wie es ist, wird möglich. – Bei den Aufstellungen folge ich dem, was sich zeigt und die Teilnehmer berührt. Ich begleite sie zu sich selbst.
Im folgenden Text werde ich Aufstellungen mit Hilfe von Symbolen darstellen. Die Symbole für die Repräsentanten enthalten immer eine Spitze. Diese kann als „Nase“ verstanden werden und gibt die Blickrichtung an. Die weiblichen Gestalten sind durch runde Symbole, die männlichen durch eckige Symbole dargestellt. Die Gestalt, die sie repräsentieren, steht über oder unter der Figur.
In diesem Artikel ergänze ich die Erkenntnisse aus den Märchenaufstellungen durch mein Wissen aus der Tiefenpsychologie nach C.G. Jung und Erich Neumann.
Rumpelstilzchen
Text aus der Urfassung der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, Hrsg. Friedrich Panzer, Vollmer Verlag, Wiesbaden
Stroh wird zu Gold
Wertlosigkeit wandelt sich zum Selbstwert
Innere Leere füllt sich mit Selbstliebe
„Es war einmal ein armer Müller“. Was ist der Grund für seine Armut? Wir erfahren es nicht im Märchen. Wesentlich ist, dass die berufliche Existenz des Müllers und seine materielle Basis gefährdet sind. In seiner Mühle wird zu wenig gemahlen. Das Mahlen von Korn zu Mehl ist ein Prozess der Wandlung vom Groben ins Feine. In der Mühle findet kaum noch Wandlung statt. Da hat das Leben innegehalten. Was ist geschehen? Wir erfahren es nicht im Märchen. Die Müllerin wird nicht erwähnt. Die weibliche Seite des Müllers, seine Frau, fehlt. Ist sie gestorben? Hat der Schmerz über ihren Verlust den Müller verändert? Das Märchen berichtet nichts davon. Ist sie neben ihrem Mann verkümmert, da er keinen Zugang zu seinen Gefühlen hatte? So erleben es einige Repräsentantinnen der Müllerin beim Aufstellen dieser Szene.
Der Müller steht gebeugt, in sich zusammen gesunken und schaut nach links. Seine Frau liegt tot auf dem Rücken am Boden, ihr Kopf ist rechts. Sie schaut nach links.
Phasen der inneren Stagnation, Leere oder Armut erleben viele Menschen in ihrem Leben. Zeiten, in denen sie das Gefühl haben, in ihnen bewegt sich nichts, oder in ihrem Leben geht nichts weiter. Schnell schleicht sich das Gefühl von Wertlosigkeit ein. Da das Märchen mit dem „armen Müller“ beginnt, ist darin auch das Problem enthalten, das gelöst werden will. Wie kann ein Mensch das Erleben der inneren Armut, der Leere und Wertlosigkeit wandeln in das Erleben seines Selbstwertes? Dies Thema spielt auch in unserer Zeit der Corona Krise eine Rolle. Wieviele „Mühlen“ stehen derzeit still! Gasthäuser, Bildungshäuser, Hotels, Bars, Cafés, Geschäfte sind geschlossen. Sie werden sich unter anderen Bedingungen wieder öffnen. Viele Menschen sind arbeitslos und spüren eine große Not, trotz angebotener Hilfen.
„Aber der Müller hatte eine schöne Tochter“. Im Blick auf seine Tochter richtet sich der vom Schicksal gebeugte Müller auf. Stolz, Freude und Zuversicht kehren in ihn ein. Er sagt, er hoffe, dass die Tochter die Armut wandeln werde. Sie ist aufrecht, jung und schön. – Wenn innerseelisch der „arme Müller“ auf seine „schöne Tochter“ schaut, erlebt er sie als eigene Kraftquelle.
„Als er mit dem König zu sprechen kam, sagt er ihm: „Ich habe eine Tochter, die weiß die Kunst Stroh in Gold zu verwandeln.“ Viele Frauen in den Gruppen sind empört, wenn sie das hören. Sie fühlen sich von diesem Vater verraten, nicht erkannt und meinen, er schmücke sich mit der Tochter, um vor dem König nicht so arm dazu stehen. Wut steigt in ihnen auf, da sie vermutlich Ähnliches in ihrem Leben erlebt haben. Andere Frauen spüren, dass dieser Vater in seiner Tochter ein Potenzial wahrnimmt und daran glaubt, dass sie es entfalten kann. Ich gehe davon aus, dass alle Gestalten im Märchen als Kräfte im Menschen wirken. Auch diese ambivalente Vaterkraft ist im Menschen. Ist sie vertrauensvoll, so nimmt sie wahr, dass die „Leere des Strohs“, die innere Leere, in etwas Kostbares, in Gold, verwandelt werden kann. Lassen wir uns auf diese innere vertrauensvolle Vater-Instanz ein, die unsere Schönheit sieht und an unsere Entwicklung glaubt, so entsteht ein neuer Raum in uns voller Wärme und Wohlwollen. Wir entwickeln Verständnis und Mitgefühl für unsere Situation, die gerade nicht leicht ist, auch in dieser Krisenzeit. Die Bereitschaft etwas zu ändern im eigenen Leben wächst, ebenso das Vertrauen in unsere Fähigkeiten. Gleichzeitig wissen wir noch nicht, wie es gelingen kann.
Der König ließ die Müllerstochter sogleich kommen und befahl ihr, eine ganze Kammer voll Stroh in einer Nacht in Gold zu verwandeln. Könne sie das nicht, so müsse sie sterben!“ Der König wird in einer Repräsentation als ein Mann erlebt, der anfangs an der Müllerstochter mehr interessiert ist als am Gold.
Während sein Stellvertreter auf sie schaut, nimmt er wahr, dass er einsam ist, dass es in seinem Schloss keine Liebe gibt, keine Frau und keine Kinder. Er sagt, dass er es gewohnt sei, seine innere Leere zu verdrängen und die Fülle seiner Macht zu spüren. Er wendet seinen Blick von der Müllerstochter ab und schaut in die Weite vor sich. Dazu sagt er: „Ich will noch mehr Macht, mehr Gold. Ich will der reichste Mann auf der Welt sein, das meiste Gold haben.“ Darin sieht er seinen Wert. Er ist innerlich ein „armer Mann“, da er keinen Bezug zu seinem Wesen, seinem eigenen Potenzial und seinem Selbstwert hat. Der Zeitgeist heute ist ähnlich. Viele Menschen machen ihren Wert abhängig von ihrem beruflichen Erfolg, ihrem Ansehen und Kontostand und nehmen ihren Wert als Person nicht wahr.
Wie geht es nun der Müllerstochter? „Sie wurde in die Kammer eingesperrt, saß da und weinte, denn sie wusste um ihr Leben keinen Rat, wie das Stroh zu Gold werden sollte.“ Ihre Not ist existentiell. Sie weiß, dass sie die von ihr erwartete Verwandlung von Stroh zu Gold nicht gelernt hat. Auch von uns Menschen wird manchmal etwas erwartet, das wir nicht können? Gefühle von Ohnmacht, Hilflosigkeit, Wut und Scham steigen auf. Das kann in einer Prüfung sein, während der Arbeit oder in einer Beziehung. In der derzeitigen Corona–Krise fühlen sich viele Menschen eingesperrt und ohnmächtig der Situation ausgeliefert. Wie soll ihr Leben weitergehen angesichts der leeren Kassen? Fragen kommen hoch nach dem, was wesentlich ist im eigenen Leben. Die Müllerstochter weint in ihrer Not. Sie lässt sich in einigen Aufstellungen „ins Stroh fallen“ , nimmt die ausweglose Situation an, wehrt sich nicht, sondern drückt ihre Gefühle von Ohnmacht, Angst und Verzweiflung aus. Ihre anfängliche Anspannung löst sich. Sie kommt bei sich selbst an, spürt, dass sie lebt und auch weiter leben will. Zeigt uns das Erleben der Müllerstochter einen Weg, wie wir individuell in einer Notsituation zu uns selber kommen können? Ich erzähle derzeit Menschen in Not in telefonischen Beratungen diese Märchenszene. Eine Klientin sagt, es helfe ihr, dass sie ihre Not aussprechen und fühlen könne. Sie spüre eine innere Leere, die sie schon lange durch viele Aktivitäten überdeckt habe. Dann weint sie. Schon als Kind habe sie sich so leer und wertlos gefühlt. Sie habe gedacht, das sei nun vorbei. Doch jetzt, allein in ihrer Wohnung und ohne Arbeit, spüre sie diese Leere wieder, wie ein schwarzes Loch. Sie möchte hineinfallen und darin verschwinden. Ich ermutige sie, dies zu tun in der Imagination. Das Weinen hört auf. Stille. Nach einiger Zeit sagt sie, dass sie in einem wunderbaren, dunklen, warmen Raum angekommen sei. Sie fühle sich hier willkommen und wohl. „Das hab ich noch nie erlebt. Ich bin bei mir angekommen,“ sagt sie zum Abschluss. „Hier darf ich sein, wie ich bin. Ich muss nichts tun, bin einfach da!“ Wenn wir unsere Not ausdrücken und annehmen, kommen wir bei uns selbst an. So kann sich die Not wenden. Plötzlich ahnen wir, wie es weitergehen kann.
Im Märchen erscheint an dieser Stelle ein kleines Männlein. „Das sprach: Was gibst du mir, dass ich alles zu Gold mache? Es tat ihr Halsband ab und gab’s dem Männlein. Und es tat, wie es versprochen hatte.“ Wer den unerwarteten, inneren Impuls, der Rettung verspricht, umsetzen will, muss sich von etwas trennen, dass ihn schmückt oder das ihm lieb ist, wie ein „Halsband“. Das kann ein vertrautes Muster sein, das von den Eltern übernommen wurde. In einer Aufstellung war das Halsband ein Geschenk der Mutter. Die Repräsentantin der Müllerstochter verband mit dem Halsband den Satz: „Ich mach es wie du Mama. Ich opfere mich auf für die andern.“ Sie spürte, dass ihr dieser Satz nicht gut tat und entschied sich, ihn loszulassen und sich dadurch von den Werten der Mutter in guter Weise zu trennen.
Und wer ist das kleine Männlein? Wir kennen Zwerge und Kobolde. Sie sind symbolisch Diener der „Großen Mutter“, der Natur. Die „Große Mutter“ ist nach C.G. Jung eine archetypische Kraft. Sie schenkt das Leben und nimmt es wieder zu sich in ewigem Kreislauf. Ihre Diener haben Teil an ihrem Wissen und an ihrer Macht. Die ihr dienenden Zwerge arbeiten im Erdreich und finden dort Schätze. Das kleine Männlein unterstützt das Mädchen in seiner Entwicklung. So will es auch die große Lebensmutter. Gold gibt es im Erdreich. Es steht dem Männlein zur Verfügung. Das Männlein ist ein innerer Anteil des Mädchens, der Zugang zu ihren verborgenen Schätzen hat. Das Mädchen muss etwas Liebgewonnenes opfern, damit das innere Männlein aktiv werden kann. Es bringt ihre verborgenen Schätze ans Licht als Gold, das die Kammer des Königs füllt.
Abb.4
„Am andern Morgen fand der König die ganze Kammer voll Gold. Sein Herz wurde dadurch nur noch begieriger. Er ließ die Müllerstochter in eine andere, noch größere Kammer voll Stroh tun. Das sollte sie auch zu Gold machen, wenn ihr das Leben lieb wäre (Ergänzung aus späteren Fassungen). Und das Männlein kam wieder, sie gab ihm ihren Ring von der Hand, und alles wurde wieder zu Gold.“ Auch der König ist ein Aspekt in der Seele des Menschen. Er entspricht dem Ich, das das eigene Leben regelt. Der innere König regiert und hat die Macht. In seinem Schloss gibt es auch verborgene Kammern voll von Stroh, von leeren Hüllen. Diese innere Leere zeigt er aber niemanden. Vielleicht hofft er, dass er sie einmal mit etwas Sinnvollem füllen werde. Die Aussicht sie ohne eigene Anstrengung mit Gold zu füllen ist wunderbar. Welche herrliche Illusion und doch so menschlich! Wer kennt das nicht? Der König im Märchen wird von den Repräsentanten als kalt, berechnend und herzlos erlebt. Das Leben der Müllerstochter bedeutet ihm nichts. Er erlebt nur seine Not, seine innere Leere und den Wunsch sie zu füllen. Er nimmt nicht wahr, dass er Ich-bezogen und gefühlskalt handelt.
Die Müllerstochter im Märchen symbolisiert die weibliche Seite des Königs, zu der er noch keine bewusste Verbindung hat. Er benutzt sie wie eine „Mühle, die Stroh in Gold wandeln soll“.
Die Müllerstocher hat in ihrer Tiefe begriffen, wie sich das Stroh wandelt, wie sie in Beziehung zu ihren Schätzen, ihrem verborgenen Potenzial kommt. Sie muss etwas loslassen, das ihr lieb oder vertraut ist, sie aber einengt. Sonst kann sie nicht weiter leben. Die Repräsentanten in den Aufstellungen erleben meist einengende Glaubenssätze als Hindernis, um ihr Potenzial ins Leben kommen zu lassen. Es sind Sätze wie: „Sei staat!“ oder: „ Du bist ja doof“ oder „Das kannst du nicht. Du bist zu ungeschickt!“
Werden die negativen Glaubenssätze bewusst wahrgenommen und als nicht wahr erkannt, können sie abgelegt werden. Wandlung kann geschehen: „Alles wird zu Gold“. In den Gruppen entsteht die Frage, was der Ring bedeuten kann? Als Symbol steht er für die Bindung: mit sich selbst, einem Partner oder dem Großen, dem Sein. Er ist rund, ein Symbol der Ganzheit und Vollendung und auch etwas, das sich im Kreis drehen kann in ewiger Wiederholung. Wo ist die Müllerstochter gebunden in einer Weise, die ihr nicht mehr gut tut, die verhindert, dass die Kostbarkeit ihres Lebens erstrahlt wie Gold?
Diese Frage stellen sich auch die Teilnehmer individuell. Wo sind sie gebunden in einer Weise, die für sie heute nicht mehr stimmig ist. Ist es die Bindung an einen Menschen oder an einen Glaubenssatz, der sie hilflos und klein macht? Dreht sich in ihnen etwas im Kreis, wiederholt sich ein innerer Film, an den sie glauben? Wovon wollen sie sich lösen, um zu erblühen? Die Antworten schreiben sich die Teilnehmer auf und teilen sie einander mit. Eine Frau berichtet von ihrem inneren Film, der ihr zeigt, wie andere sie abwerten. Dieser Film quäle sie. Sie fühle sich als Opfer und werde wütend. Früher habe sie gesungen, getanzt, gebastelt. Sie wäre so kreativ gewesen. Das sei nun alles vorbei. Sie sagt, es sei erleichternd, das zu äußern und zu erkennen. Sie spüre, dass sie „das Kind eines Königs“ sei. Sie wolle diesen Film stoppen und sich wieder ihrer Kreativität zuwenden.
Die Müllerstochter kann innerseelisch als weibliche Seite des Königs gesehen werden. Es ist zugleich die Seite des Gefühls, die er bislang nicht beachtet hat. Diese Seite wird nun nachts aktiv, im Dunkeln. Etwas bewegt sich im Unbewussten des Königs. Seine ihn einschränkenden Glaubenssätze tauchen auf, seine Gefühle werden ihm bewusst. Die Äußerungen der Müllerstochter während der Aufstellung können als Ausdruck der Gefühle des Königs gesehen werden. In einer Aufstellung sagte die Müllerstochter: „Keiner sieht mich wirklich. Alle schauen nur auf meine Leistung, das Gold. Ich fühle mich völlig überfordert.“ Durch diese Worte der Gefühlsseite des Königs sind seine innere Not und sein fehlender Selbstwert zu ahnen.
Die Repräsentantin der Müllerstochter erkennt in diesem Satz einen ihrer eigenen Glaubenssätze. Ihr wird deutlich, dass sie diesen Satz und ihre Opferrolle loslassen will, um zu sich, ihrer Kreativität und ihrer Selbstliebe zu kommen.
„Der König aber hieß sie die dritte Nacht wieder in eine dritte Kammer sperren, die war noch größer als die beiden ersten und ganz voll Stroh, „und wenn dir das auch gelingt, sollst du meine Gemahlin werden“. Viele Frauen in meinen Gruppen sind entsetzt. So einen kalten, egozentrischen, gefühllosen, goldgierigen Typen soll das Mädchen heiraten, nur weil es „alles zu Gold verwandeln kann“? Sie fühlen, dass er das Mädchen benutzt, missbraucht und nicht in ihrer Individualität sieht. Sehr verständlich. – Manchmal blickt auch der innere König, das Ego, nur auf die eigene Leistung. Dann fühlt sich der Mensch als Erfüller seiner Pflichten, bleibt aber innerlich leer und ungeliebt.
Vielleicht beginnt der König das Wunder der Wandlung in seinem Schloss, in seinem Inneren, wahrzunehmen. Es geschieht durch das Mädchen, seine weibliche Seite. Die Müllerstochter bringt Gold, etwas Kostbares, in seine leeren Kammern. Das tut ihm gut und weckt seinen Wunsch, sich mit ihr zu verbinden. So teilt es der König in einer Aufstellung mit. Es wird im Märchen nicht gesagt, warum der König die Hochzeit mit der Müllerstochter möchte. Hat er vielleicht wahrgenommen, dass sich nicht nur das Schloss, sondern auch das Mädchen wandelt, dass es in seine Kraft kommt und beginnt seinen Selbstwert zu spüren? Dies nimmt eine Repräsentantin der Müllerstochter wahr. Ist sie durch ihren Prozess des Loslassens von alten Mustern noch schöner geworden, was dem König gefällt? Beim Stellen zeigt sich die Wandlung des Königs. Ihm ist nun das Wesentliche nicht mehr seine Macht, sondern die Verbindung mit der Königstochter.
Wie geht es uns, wenn wir uns von Unwesentlichem trennen, das uns aber so vertraut ist, dass wir meinen, es gehöre zu uns? Dieser Prozess ist oft nicht leicht. Aber er „rettet unser Leben“, schenkt uns innere Lebendigkeit, wandelt „Stroh zu Gold“ – der Wunsch der Alchimisten. Dem Mädchen gelingt es. Sein eigener Wert wird sichtbar durch das Loslassen von alten Werten. Es beginnt zu strahlen. Der König nimmt das wahr.
Gold Mädchen König
Abb.5
„Da kam das Männlein und sagte: „Ich will es noch einmal tun, aber du musst mir das erste Kind versprechen, das du mit dem König bekommst.“ Sie versprach es in der Not. Wie der König nun auch dieses Stroh in Gold verwandelt sah, nahm er die schöne Müllertochter zu seiner Gemahlin.“
Manche Frauen sind weiterhin empört, wie selbstherrlich der König handelt und das Mädchen nicht einmal fragt, ob es bereit ist, ihn zu heiraten. Sie sind auch genervt von dem Mädchen, das sich alles gefallen lässt und nicht wagt „Nein“ zu sagen, weder zu den Forderungen des Königs, noch zu denen des Männleins.
Beim Stellen teilte eine Repräsentantin des Mädchens mit, dass sie in diesen drei Nächten erwachsen geworden sei. Ihr komme es vor, als habe sie sich gewandelt und befinde sich jetzt auf Augenhöhe mit dem König. Sie sei bereit ihn zu heiraten, ja, sie freue sich darauf. In der Gruppe spürten wir dem nach und ahnten, dass das so ist. Sogleich kam die Frage auf, warum sie nicht „Nein“ gesagt hat zu der Forderung des Männleins, ihm ihr erstes Kind zu versprechen. Hat sie es ihm versprochen, um den König heiraten zu können? Im Text steht nicht mehr, dass der König sie töten würde, falls ihr die Wandlung nicht gelänge. Dennoch ist sie „in Not“ und verspricht ihr erstes Kind dem Männlein. Tat sie dies, um ihr Leben zu retten oder um den König zu heiraten? War sie gierig nach Macht geworden und darin dem König gleich? Oder hat sie ihre Reifung zur Königin wahrgenommen und die Wandlung des Königs in einen warmen, sie wertschätzenden Mann? Hat sich zwischen beiden ein feines Band der Liebe gewoben? Das Märchen gibt darauf keine Antwort. Beim Stellen zeigt sich die Ebenbürtigkeit der beiden.
„Bald darauf kam die Königin ins Wochenbett. Da trat das Männlein vor die Königin und forderte das versprochene Kind. Die Königin aber bat, was sie konnte und bot dem Männchen alle Reichtümer an, wenn es ihr ihr Kind lassen wollte. Allein, alles war vergebens. Endlich sagte es: “In drei Tagen komm ich wieder und hole das Kind. Wenn du aber dann meinen Namen weißt, so sollst du das Kind behalten“!
Hier zeigt sich, dass die Müllerstochter wirklich erwachsen geworden ist und die Rolle der Königin und Mutter füllt. Sie kämpft für ihr Kind, für das Lebendige, das in ihr gewachsen ist, für das Neue, das sie in die Welt gebracht hatte. Nach C.G. Jung ist dies Kind symbolisch ihr Selbst, zu dem sie gefunden hat. Sie hat gelernt zu unterscheiden, was die innere Lebendigkeit fördert und was nicht, was sie weggeben muss und wofür sie sich einsetzen muss. Jetzt übernimmt sie Verantwortung.
Wie verhält es sich nun mit dem Männlein. Es ist eine Gestalt, die es real nicht gibt. Symbolisch ist es ein Diener der Großen Mutter Natur. In diesem Märchen tritt es auf, wenn das Mädchen vom Tode bedroht wird. Das Männlein weiß, wie das Leben des Mädchens weitergehen kann. Es entspricht einem inneren Instinkt, einer inneren Stimme, die dem Mädchen rät, was zu tun ist. Es fordert etwas von dem Mädchen, hilft ihm nicht umsonst. Hat das Männlein auch eine innere Leere und füllt sie mit Dingen, an denen das Herz des Mädchens hängt, wie das Halsband und den Ring? Meint es, es bekäme dadurch etwas von ihrer Liebe? In der Repräsentation des kleinen Männleins wird deutlich, dass es sehr bedürftig nach menschlicher Liebe ist. „Gold ist mir nicht wichtig. Ich schäme mich, dass ich von dem Mädchen so viel bekommen habe. Ich habe das Gefühl, ich hätte dem Mädchen etwas aus seinem Herzen geschnitten. Ich brauche etwas von den Menschen und weiß, dass es mir nicht zusteht.“ Das sagt es, nachdem es das Halsband und den Ring bekommen hat. Und nun fordert es ihr Kind. Ist es so hungrig nach menschlicher Liebe, dass es trotz seiner Scham das Neugeborene haben will? Braucht das Mädchen diese unglaubliche Forderung, um endlich „nein“ zu sagen? Lernt es dadurch zu unterscheiden, welche Forderungen dem Leben dienen und welche nicht? Das Männlein scheint zu spüren, dass es zu weit gegangen ist in seiner Forderung nach dem Kind. Es gibt der Königin die Möglichkeit, ihr Kind zu behalten, wenn sie den Namen des Männleins findet. Wer den Namen von jemandem weiß, der hat die Macht über ihn. Spirituell bedeutet das Kennen des Namens, Zugang zum Wesen des Anderen zu haben.
„Da sann die Königin den ersten und zweiten Tag, was doch das Männchen für einen Namen hätte. Sie konnte sich aber nicht besinnen und ward ganz betrübt.“
Die Königin möchte dies Männlein erkennen. Es hat ihr das Leben gerettet, hat in königlichen Kammern gerumpelt und Wandlung vollzogen, sie mit Gold gefüllt. Eine Repräsentantin der Königin spürt Dankbarkeit zu diesem Männlein. Gleichzeitig ahnt sie, dass das Männlein mit falschen Karten gespielt hat. Es hat ihr zwar geholfen, war dabei aber eigennützig. Es hat zu viel von ihr gefordert, ihre Grenzen nicht geachtet. Sie nimmt wahr, dass es etwas von ihr haben will, das es selbst nicht hat und dass es für das Männlein lebensnotwendig ist. Sie spürt seine Unersättlichkeit, seine Gier. Für diese kleine, ambivalente Gestalt findet sie keinen Namen. Ihr fällt nur der Teufel ein, von dem gesagt wird, dass er die Menschen mit Gold beschenke und dafür ihre Seele haben will.
„Am dritten Tag aber kommt der König von der Jagd heim und erzählt ihr: ich bin vorgestern auf der Jagd gewesen. Als ich tief in den dunklen Wald kam, war da ein kleines Haus und vor dem Haus war ein gar zu lächerliches Männchen, das sprang als auf einem Bein davor herum und schrie:
Heute back ich, morgen brau’ ich,
übermorgen hol ich mir der Königin ihr Kind.
Ach wie gut, dass niemand weiß,
dass ich Rumpelstilzchen heiß!“
In Aufstellungen springen Repräsentanten des Rumpelstilzchens gerne im Wald um ein imaginäres Feuer. Sie fühlen sich vital, voller Lebenslust und Kraft. Manche erleben einen inneren Schalk und Witz, andere fühlen sich verschlagen. „Mir geht es gut! Ich kann alles! – Aber ich bin allein. Doch nicht mehr lange! Ich freue mich auf das Kind der Königin, das bald bei mir sein wird! Das hab ich super hinbekommen. Es ist nicht ganz ok, dass ich es verlange. Aber die Einsamkeit hier im Wald bringt mich sonst um!“
Abb.6
Der König hat sein Schloss verlassen, den Ort, wo er zuhause ist, wo er sich auskennt, den Raum seines Bewusstseins. Er jagt im dunklen Wald, einem Ort, der ihm nicht vertraut ist. Symbolisch ist er in seinem Unbewussten. Wonach jagt er, was fehlt ihm und was sucht er? Gold hat er jetzt genug. Er entdeckt ein kleines Haus und ein kleines Männchen, das davor auf einem Bein umherspringt und sein Sprüchlein schreit. Der König kommt sich selber auf die Spur. Er sieht in dem Männlein einen verborgenen Teil von sich selbst, seine Gier nach Lebendigem, seine innere Leere und Not. Mit dieser heimlichen Gier hätte er beinahe das Kind der Königin erstickt, das ja ihr gemeinsames Kind ist. Es ist das Neue, das in seinem Schloss geboren wurde, die Liebe. Er sieht in dem kleinen springenden Wesen im Wald sein inneres Männlein, verborgen vor der Welt, doch mächtig in seiner Gier. Es ist ein kleines Stilzchen, ein Männlein, das in ihm rumort und gerumpelt hat und immer mehr wollte. Indem das Männlein seinen Namen nennt, erkennt es der König in sich und erzählt seiner Frau davon.
„Wie die Königin das hörte, ward sie ganz froh. Und als das gefährliche Männlein kam, frug es: Frau Königin, wie heiß ich?- Heißest du Konrad? – Nein – Heißest du Heinrich? – Nein – Heißt du etwa Rumpelstilzchen? – Das hat dir der Teufel gesagt! Schrie das Männchen, lief zornig fort und kam nimmermehr wieder.“
Die Königin weiß nun den Namen des Männleins. Dadurch ist der Bann gebrochen, mit dem sie mit dem Männlein verbunden war. Es hat keine Macht mehr über sie. Sie erkennt in dem Männlein die Kraft, die sie aufgefordert hat ihre „Rumpelkammern“ zu leeren. Das hat ihr geholfen sie mit Gold zu füllen und ihren eigenen Wert zu spüren. Neben dieser wunder-baren Seite des Männleins, die Leben spendend ist, hat es aber auch eine das Leben verschlingende Seite. Diese will ihr Kind haben. Beide Seiten sind Aspekte des Archetyps der Großen Mutter. Indem die Königin diese erkennt in dem Männlein, erkennt sie sie auch in sich und im König. Nun kann sie verantwortlich mit diesen inneren Kräften umgehen. Sie ist weise geworden. In der Liebe zu ihrem Kind, ihrem Selbst, ist ihre Selbstliebe erblüht. So kann sie dem König ebenbürtig in Liebe begegnen. Die Leere in ihr, dem König und dem Schloss ist nun von Liebe erfüllt. Sehen wir alle Gestalten als innere Anteile eines Menschen, so hat dieser die anfängliche innere Leere mit Selbstwert und Liebe gefüllt. Sein Entwicklungsprozess hat bewirkt, dass er ganz und heil geworden ist.
Eine Klientin sagte mir in einer Einzelsitzung nach der Märchenaufstellung, dass sie die beiden Seiten des Rumpelstilzchens kenne. Die eine helfe ihr, auf dem Weg ihrer persönlichen Entwicklung. Sie lässt sie ihre Rumpelkammern leeren, überholte Verhaltensweisen und negative Glaubenssätze erkennen und ihre verdrängte Kreativität wieder leben. Dadurch findet sie zu ihrem Selbst, dem königlichen Kind. In ihrer Freude vergisst sie die verschlingende Seite. Plötzlich ist sie da in einem alten Glaubenssatz, den sie für überwunden hielt: „Glaub ja nicht, dass dir das Neue zusteht!“ Und schon ist auch der Selbst-zweifel da. Im gemeinsamen Gespräch zeigt sich die Klienten zufrieden darüber, dass sie ihren alten Glaubenssatz und erkannt hat. Ihr wird deutlich, dass sie diesem Satz unbewusst Macht gegeben und ihm geglaubt hat. In einer Übung lernt sie, den Glaubenssatz anzunehmen als zu ihrer Kindheit gehörig. Damit verliert er seine Macht über sie. Sie schenkt nun ihre ganze Aufmerksamkeit ihrer erwachenden Kreativität und der Treue zu ihrem Wesen. Während sie Glasbilder malt, fühlt sie sich ganz bei sich selbst. Für sie ist „Rumpelstilzchen“, verschwunden.
Eine Teilnehmerin fragt gegen Ende eines Seminars nach dem Vater und dem anfänglichen Problem. Der Müller ist zu Beginn innerlich leer und gierig nach neuem Leben in seiner Mühle. Wir spüren, dass der Vater, der König und das kleine Männlein mit einander verbunden sind durch die innere Leere und die Gier, sie zu füllen. Die Armut des Müllers ist der Auslöser, der den Prozess in diesem Märchen in Bewegung setzt. Der inneren Armut und Leere begegnen wir wieder beim König und dem Rumpelstilzchen. Es wird „entrümpelt“. Innere, blockierende Sätze werden erkannt und losgelassen. Wandlung kann geschehen. Die verborgenen Schätze zeigen sich symbolisch in den Kammern voll Gold. Die innere Leere ist vorbei. Das eigene Potenzial ist spürbar für alle Personen dieses Märchens, für alle Anteile in uns. Durch die Hochzeit verbinden sich innerlich die männliche und weibliche Seite, wodurch ein Schöpfungsprozess beginnen kann. Ein Kind wird gezeugt und geboren. Innerlich können wir es als unser Wesen oder Selbst erleben, zu dem wir endlich Zugang haben. Es symbolisiert im Märchen das „neue Leben“ für die Mühle, nach dem sich der arme Müller zu Beginn sehnt. Seine Armut ist vorbei.
Der Vater der Königin wird am Ende nicht mehr erwähnt. Ich ergänze den fehlenden Schlusssatz, der in vielen Märchen vorkommt. „Es wurde ein großes Fest gefeiert zur Geburt des Kindes. Es war ein Fest der Liebe, zu dem auch der Müller eingeladen war, der Vater der Königin“. Die Aufstellung dieses Endes ergab dies Bild.
Abb.7
Der Repräsentant des Müllers fühlt sich reich beschenkt durch seine Tochter. Sie hat Wandlung in sein Leben gebracht. Er schaut voller Liebe auf seine Tochter, seinen Schwiegersohn und das Enkelkind. In ihm sieht er, dass das Leben gut weitergeht. Freude und Dankbarkeit erfüllen ihn.