Kerstin: Wir waren ja gemeinsam in einer Diskussions- und Austauschrunde, die sich an diesem Tag damit beschäftigte, was je für uns die stellvertretende oder auch repräsentierende Wahrnehmung ist. Wir arbeiten mit dieser menschlichen Fähigkeit der körperlich-sensorischen sowie emotionalen Einfühlung in andere, uns fremde Personen und sogar Entitäten als einer der zentralen Wirkkräfte, die unsere Arbeit ausmachen. Und die gleichermaßen bedeutsam ist, weil sie uns mit unserer Möglichkeit, Resonanzkörper für die phänomenologische Qualität der Welterfahrung zu sein in Verbindung bringt und damit den Zugang zum Entwicklungs- und Heil-Raum für die Aufstellungsarbeit bewusst macht.
Im Austausch darüber, was wir hier an uns selbst wahrnehmen, wie wir erkennen, ob Aufstellungsmitwirkende in einer stellvertretenden Wahrnehmung sind oder nicht und wie wir dies beschreiben könnten hat uns in einen anregenden Austausch gebracht, in dem sich auch schnell die Kontexte mitzeigten, innerhalb derer wir arbeiten. Und: Wie unterschiedlich diese sind. Entsprechend breit waren die Reaktionen. Verwunderung, Staunen, Skepsis, Irritation, Neugier, Interesse… entstanden, als wir in Kleingruppen zu unserer Art, mit dieser unserer Fähigkeit zu arbeiten Auskunft gaben. „Ich dachte bisher immer, dass …“, „Ist es nicht so, dass …“, „Wie? Du entrollst nicht am Ende der Aufstellung? Was machst du stattdessen?“ … solche und noch mehr Fragen schwangen mit. Wir wissen natürlich alle, dass es unterschiedliche Bereiche der Arbeit, unterschiedliche Formate und individuelle Arten zu arbeiten, wir haben ja auch ganz unterschiedliche Arten alle selbst erlebt, ausprobiert und praktizieren damit. Es war in diesem Moment aber nicht so sehr das Wissen um all das im Vordergrund, als vielmehr fühlbare Vielfalt und Unterschiedlichkeit mit den je verschiedenen Reaktionen darauf. Vielfalt: Potential, breites Spektrum, anpassungsfähig und flexibel, etabliertere und solide Vielfalt, verstanden als Ausdifferenzierung einer gemeinsamen, methodischen Basis, dazu noch etwas von der experimentellen Vielfalt der Anfänge, die als Wegbereiter für ebendiese Basis wichtig war und weiter wichtig für uns bleibt: für die Lebendigkeit und Veränderungsbereitschaft die eine Methode braucht – inklusive derer, die sie anwenden. Das zu spüren hat uns gefreut, gestärkt, Zusammenhalt befördert. Schöner Spagat. Etwas, dass sich ausbreitet befördert Gravitationsenergie. Und dann die gegenteilige (war sie gegenteilig? Oder nur anders?) Reaktion, vertreten durch Irritation und Befremdung. Ist das noch Aufstellungsarbeit? Stellvertretende Wahrnehmung? Aufstellungsarbeit quo vadis? Will ich, kann ich da noch mit? Das haben wir statt vielfältig eher als unterschiedlich erlebt; das hat eine Energie hervorgerufen, die uns eher auseinander brachte. Noch einmal: Diese Fragen kennen wir, sie begleiten uns ja nicht nur bezüglich der Auseinandersetzung mit unserer Methode. Es war an diesem Tag, an diesem Punkt der Geschichte der Aufstellungsarbeit spürbar, etwa wie ein sphärischer Herzschlag, Diastole-Systole. Deshalb hab ich Dich gefragt, als erfahrenen Aufsteller, für die PdS einen Artikel darüber zu schreiben. Es könnte Zeit sein, einmal wieder über die Vielfalt und Unterschiedlichkeit bezüglich unserer Methode zu ventilieren, bei mir ganz klar mit dem Wunsch, auf das Potential und das Verbindende der Vielfalt zu schauen, aus beruflichem Reflex, potentialorientiert zu arbeiten aber auch bewusst, um die Sicherheit, die Vielfalt geben kann zu stärken und die Unsicherheit bezüglich der Unterschiedlichkeit erträglich zu machen. Nun, da ich Dank Deiner Initiative für diese Form mit im Boot bin, dies zu erörtern bin ich froh, dass wir das gemeinsam machen. Allein hätte ich das nie gemacht. Und: Ich bin gespannt, was da entsteht und wie es weiter gehen kann.
Claude:Ich erinnere mich gut an diese Runde des Forschungs- und Austauschkreises und auch an meine Verwunderung darüber, dass in der Kleingruppenarbeit nicht das vorgegebene Thema „repräsentierende Wahrnehmung“ diskutiert wurde, sondern die Gespräche um die unterschiedlichen Praktiken kreisten. Diese Fokussierung entsprach mit Sicherheit dem Bedürfnis der Kolleginnen und Kollegen, sich erst einmal über konkretes Handeln und nicht über Theorien auszutauschen. – Oder könnte es auch sein, dass selbstverständliche Praxis keiner Theorie bedarf?
Damit ist ein weiteres Stichwort gefallen: Nicht nur in der Praxis, sondern auch in der Theorie der Aufstellungsarbeit gibt es eine große Vielfalt. Zur Erklärung der Phänomene werden Versatzstücke aus den unterschiedlichsten Disziplinen herbei gezogen: Quantenphysik, Neurowissenschaften, Kommunikations- und Informationswissenschaften… Doch nach der eher fruchtlosen Debatte zwischen den Vertretern von Sichtweisen phänomenologischer und konstruktivistischer Ausrichtung – ich habe den Eindruck, dass die beiden einflussreichen Denkrichtungen der zeitgenössischen Philosophie vorab dazu verwendet wurden, die eigene Meinung abzusichern und einen normativen Rahmen zu setzen – könnte möglicherweise das Interesse an einem Diskurs auf dieser Ebene nicht mehr sonderlich gross sein. Auch wenn man der Überzeugung ist, dass Praxis nur vermittels Theorie sich selber verständlich wird.
Doch die Frage bleibt: Wie gehen wir mit der Vielfalt um? Folgen wir Paul Feyerabends Diktum aus den siebziger Jahren „anything goes“ – denn schliesslich ist Aufstellen ja eine Kunst. Oder suchen wir unser Heil (sic!) in einem Kanon von Grundsätzen – denn Aufstellung ist eine Methode, die es eindeutig festzulegen gilt?
In seinem Eröffnungsvortrag zur Tagung „Und wohin ziehen die Drachen nun – 20 Jahre Organisationsaufstellungen“ in diesem Frühjahr in Wiesloch stellte Thorsten Groth eine Art heuristisches Raster bestehend aus sechs Ebenen vor: Interventionstechnik, Interventionsdesign, Interventionsprinzipien, Interventionsbasis, Interventionsfokus und Interventionstheorie. Mit dessen Hilfe hielt er zentrale Momente der systemischen Beratung – nicht der Aufstellungsarbeit – fest.
Dabei hat Thorsten Groth die Alternativen auf der jeweiligen Interventionsebene nicht einfach eliminiert sondern mit der präferierten (und fett gedruckten) Option zusammen aufgeführt. Was ein solches Vorgehen (auch) zeigt ist Folgendes: Zur integralen Bestimmung einer Intervention in den Feldern der Therapie und Beratung – also auch der Aufstellungsarbeit – könnte es hilfreich sein, sich auf eine Kombination von präferierten Optionen fest zu legen undmögliche Alternativen mit zu nennen. Ich würde dafür plädieren, dass wir in unserer Community of Practice etwas Ähnliches unternehmen wie Thorsten Groth und seine Beraterkollegen von Simon, Weber & Friends. Wir könnten mit Hilfe eines Rasters ein Inventar der Variablen erstellen und diese Ebenen durch das Herausheben präferierter Optionen übergreifend integrieren. – Seit jeher waren solche Systematisierungen ein Aufgabenfeld von Akademien… Warum sollte es sich nicht auch zu einem Schwerpunkt der DGfS-Akademie entwickeln?
Und damit komme ich zu einem ersten persönlichen Fazit. (Geistiger) Reichtum entsteht nicht aus schierer Vielfalt sondern aus einer intelligenten Integration von Variablen aus verschiedenen (Betrachtungs-)Ebenen. Diese Integration ist nur in einem offenen Diskurs zu leisten und dürfte wohl auch zeitlich nie ganz abgeschlossen sein. Und entsprechend: (Geistige) Armut herrscht dort vor, wo es eine Vielfalt unverbundener Variablen gibt und Alternativen eliminiert oder als Gegenposition abgetan werden.
Kerstin:… vermutlich, weil wir sonst diese Vielfalt nicht aushalten, weil die Komplexität zu hoch und damit Orientierung zu gering ist. Vielfalt (zudem auf verschiedenen Ebenen) wahrzunehmen und gelten zu lassen, ist eine Kompetenz, die meines Erachtens bei uns je individuell beständige Achtsamkeit und Förderung braucht – für uns selbst und schon gar als Begleiter von Mitmenschen. Deshalb ist Umgang mit Vielfalt für mich Haltungssache und Haltungssachen knüpfen an Weltbezügen an. Hierauf richte ich meine persönlichen ersten, meine Orientierung sichernden Blicke. Wenn ich verunsichert bin, was tu ich, um mich zu stabilisieren?
Im Moment scheint es mir möglich, dass wir uns als Aufstellungen nutzende Therapeuten/Coaches/Berater… stabilisieren, in dem wir uns diese Verunsicherung erlauben, sie annehmen, wertfrei, als normalen Prozess in einer komplexen Gemengelage. Wer sollte denn da eine Antwort wissen? Zumal wir ja viele basale Fragen nicht beantworten können (bspw.: Auf was beruhen die Informationen in Stellvertretungen?) – auch wenn wir es – selbstverständlich – immer wieder versuchen. Unsere, über die Jahre gewonnene Etablierung als Methode, scheint mir ausreichend, um eine solche Verunsicherung auszuhalten. Und sie wäre auch angemessen: Denn das, was sich an unterschiedlichen Ansätzen und Herangehensweisen zeigt, ist breit. Und es mag nicht immer Vielfalt sein – hier verstanden als Mannigfaltigkeit von etwas, das sich einem Phänomen, einer Art, einer Gattung … zuordnen lässt. Wir kennen Herangehensweisen, die Ähnlichkeiten zu Aufstellungen aufweisen, indem sie mit verschiedenen Personen im Raum für einen Klienten im Sinne seines Anliegens arbeiten, aber doch so verschieden voneinander sind, dass sie keine Aufstellungen sind und auch keine sein wollen… Das „Parts Party“ Modell etwa von Satir… Was sind Aufstellungen? Wir sind freilich schon lange und immer wieder mit dieser zentralen Frage beschäftigt und haben Antworten zu bieten… allerdings – wie überall in Bereichen, wo Erfahrungs- und Wahrnehmungsorientierung die Basis ausmacht – keine abschließenden. Es gehört zu den Schwierigkeiten und zu den Möglichkeiten mit solchen unabgeschlossenen Systemen umzugehen. Warum sollte es hier anders sein, als im Leben 🙂
In diesem Zusammenhang finde und fand ich die Diskussion um die beiden Herangehensweisen konstruktivistisch/phänomenologisch nicht fruchtlos und sehe sie auch nicht am Ende. In der Heft-PdS 2/2014 haben Diana Drexler und Stephanie Hartung Artikel hierzu verfasst, die recht aufschlussreich zeigen, wie fruchtbar die Debatte war und – kongruent für uns Aufsteller – darauf schauen, wo sich Berührungspunkte, Schnittstellen und nützliche komplementäre und ergänzende Dynamiken zeigen. (Mich würde allerdings interessieren, vor welchem Hintergrund Du sie fruchtlos findest.) Ich finde diese Zeit jetzt spannend, eben weil es keine schnellen Antworten gibt, weil wir diese Phase, gefüttert vom damaligen starken kritischen Gegenwind, der dazu reizt, zum nächstmöglichen Haltegriff zu fassen, ein Stück weit hinter uns haben und weil wir genügend Impulse finden, aus unseren Reihen zu schauen, was uns bisher getragen hat und was uns nützlich irritiert. So machen wir das ja auch in Aufstellungen. Wir akzeptieren die Irritation, wir lassen Zeit, haltend und vertrauend, dass sich zeigen möge, was kommen kann, wenn wir in Verbindung mit dem bleiben, was trägt und wahrnehmen wohin die Liebe / die Kraft /… fließen.
Du schreibst, dass bei der Forschungskreis-Veranstaltung, die wir in der Einführung unseres Austausches hier erwähnten, weniger Interesse an Theoriebildung als nach einer Betrachtung unseres konkreten Handelns war. Das habe ich auch so wahrgenommen und freue mich darüber. Ich verstehe das als Gegenbewegung zum Bemühen um Theoriebildung – beides ist wichtig. Und genau dies brachte uns ja auch ins Gespräch, ins Fragen und in eine verbindende Offenheit. Wenn wir mehr solche Atmosphären schaffen, in denen wir ausloten können, wo Vielfalt die Arbeit weiter bringt und klarer fassen hilft, oder wo sie in Beliebigkeit abdriftet und Aufstellungsarbeit zu einem Label reduziert wird, das für jedes funktionale Abbilden von mehreren, an einem Problem beteiligten Elementen genutzt wird. Aktuell sei hier die Berliner Regionalgruppe erwähnt, die versucht hat, in einer solchen Atmosphäre mit ihrer Veranstaltung „Labor Berlin – Dazugehören und anderssein“ in diesem November 2018 mit Unterschiedlichkeit fruchtbar umzugehen. Hier im Internet-Forum der PdS sind wir dabei, „dialogischer“ zu werden, in dem wir neben den Fachartikeln zunehmend Themenbereiche zum Austausch mit auch kurzen Artikeln anbieten, die aktuell und wichtig für unsere Arbeit und unser Arbeiten sind und über den Tellerrand blicken – wie unser Umgang mit Grenzen, dem Thema „Gruppenseele“, oder der Frage, was die Aufstellungsarbeit bezüglich aktueller Fragen wie dem Rechtsruck zu bieten hat…
Theoriebildung weiter zu finden und auch an vorhandene Theorien anzuknüpfen ist ein zusätzlicher Weg. Aufstellungsarbeit goes Hochschule – auch fein, passiert schon. In vielen Bereichen bewegt sich was. So haben wir innerhalb der DGfS auch mit der Idee einer Akademie angefangen, die Du erwähnt hast. Klein, angepasst an die eigene Kraft und Leistungsfähigkeit und mit der Lust und dem Bekenntnis zur Weiterentwicklung der Aufstellungsarbeit und der Förderung von uns als Anwendern.
Wenn hier – wie ich Deinen Vorschlag verstehe – mithilfe eines Rasters eine Übersicht entwickelt und diskutiert wird – Du nennst es ein Inventar der Variablen – warum nicht? Für mich hat dies hauptsächlich eine ordnende, sammelnde Funktion, und alles Wichtige, was damit einhergeht. Geistiger Reichtum, meine ich, kann daraus nicht entstehen. Geistiger Reichtum kann darin abgebildet werden, oder besser: wir können ihn daraus herauslesen. Solche formalen Strukturen zu schaffen kann sicher die Aufgabe einer Akademie sein, wie Bündelung / Integration / Verbreitung … Im Anschluss an den nun nicht mehr stattfindenden Forschungskreis wird die Idee der Akademie ja weiter entwickelt werden, und, ja, ich wäre gespannt auf ein solches Inventar – auch für die Weiterbildung.
Die Zutaten für geistigen Reichtum sehe ich in Angstreduktion, Bewusstheit über das eigene Tun, Offenheit, Neugier, das Sein können in dem, was wir Nicht-Wissen oder Nicht-Verstehen nennen. Auch hierfür können Akademie-Strukturen einen Rahmen geben – neben den anderen fachlichen Begegnungen unter uns Aufstellern und verwandten Kolleg*innen und auch neben den Weiterbildungen, die neben den methodischen Aspekten solche Haltungsfragen und Bewusstseinsbildung mit im Blick haben. Achtsamkeitspraxis bspw. als eine Form des Zu-Sich-Kommens, des offenen Beobachtens, der Nicht-Identifikation könnte ja in die Weiterbildungen als ein Element einfließen, dass uns unsere Haltung ausbilden hilft – auch wenn die Praxis selbst nicht aus der Aufstellungsarbeit kommt.
Du hast ein bisschen zugespitzt nur zwei Positionen als Rahmen zur Verfügung gestellt, innerhalb dem sich die Aufstellungsarbeit aufspannt: anything goes, weil Aufstellen ja auch eine Kunst sei und auf der anderen Seite den Kanon für eine festgelegte Methode. Ich sehe keine Not, da so alternativenarm zu sein. Weder rhetorisch noch faktisch. Das bringt keine Antwort auf die Frage, wie mit der Vielfalt der Aufstellungsarbeit umzugehen sei, sondern macht eng wo Weite gebraucht würde. Ohnehin kann Aufstellungsarbeit keine Kunst sein und wir Aufsteller*innen sind keine Künstler, wiewohl wir, wenn wir gut mit unserer Intuition verbunden sind, uns ähnlicher Zugänge bedienen und kreative Erlebnisse haben. Kunst fragt aber nicht nach Absichten und Zielen. Kunst braucht keine Verantwortung für andere zu übernehmen. Darf sinnbefreit und Selbstzweck sein. Das Abarbeiten eines Aufstellungsrezeptes als normatives Gegenteil, das jedes Tasten in den phänomenologischen Raum vermissen lässt, ist sicher auch existent, darin wird der Impuls bei dir gelegen haben, eine solche Aufspreizung in diese Extreme vorzunehmen, dazwischen aber tummelt sich eben viel.
Deshalb: Das eine tun und das Andere nicht lassen. Ich neige bezüglich meines Weges eher dazu, mich mit dem Nicht-Wissen oder der leeren Mitte als menschliche Evolutionszone zu befassen und hier hineinzuwachsen und auch dazu, meinen Bewusstseins- und Handlungsort zu erweitern. Und finde gut und spannend, wenn andere wissenschaftlich arbeiten und wieder andere experimenteller vorgehen. Was mir dabei wichtig ist, dass das Nachfragen, das Teilen und das Wundern immer selbstverständlicher werden.
Claude: Ich möchte einen Aspekt aufgreifen, auf den Du ganz am Anfang Deines letzten E-Mails hingewiesen hast: Die Haltungssache. Haltungen werden ja als Grundeinstellungen bestimmt, die unser Denken und Handeln prägen. Begrenzt werden sie durch Werte und Normen. Solche liegen sämtlichen Praktiken, Absichten und Urteilen der Menschen zugrunde. Und wiederum zugespitzt könnte man sagen: Haltung reduziert Vielfalt (allerdings eröffnet eine bestimmte Haltung wiederum auch Möglichkeiten…). In diesem Zusammenhang möchte ich auf einen mir wichtigen Punkt hinweisen: Vielfalt darf nicht in Beliebigkeit ausufern.
Und: Es sind (gelebte und nicht bloß deklarierte) Werte, die ein solches Ausufern verhindern. Der DGfS-Vorstand hat Anfang dieses Jahres dem Antrag, eine Ethik-Kommission einzurichten, stattgegeben. Vielleicht entwickelt sich daraus ja ein breit angelegter Werte-Dialog – ein weiteres mögliches Aufgabenfeld der Akademie. Mit Sicherheit hätte ein solcher Diskurs auch Folgen für die Beurteilung von Praktiken: Gewisse Praktiken würden gestärkt, andere wiederum in Frage gestellt.
Ich glaube nicht, dass man generell einer beliebigen Vielfalt das Wort reden sollte. Allerdings widerstrebt mir auch das dogmatische Gehabe. Irgendwie stecken wir im Dilemma fest: Gerade im Aus- und Weiterbildungsbereich wird dies deutlich. Die Ausbildner sind genötigt zu fokussieren und das heißt: die Vielfalt auf ein Maß zu reduzieren, das in Kursen vermittelbar ist. Dieses Maß wird momentan durch die eigenen Präferenzen bestimmt – und das ist auch gut so (obligatorische Lehrpläne halte ich für den Tod jeder Bildung). Im schlechten Fall allerdings kann dies zu Besser-Wisserei und zum Sich-Abschotten führen. Als Gegenmittel bleibt da nur der Dialog, in dem immer wieder daran erinnert wird, dass es Vielfalt und in der Vielfalt auch Gemeinsamkeiten gibt – auf der Ebene der Werte, der Theorien und der Praktiken. Diese Gemeinsamkeiten festigen nicht zuletzt die Identität unserer „Community of Practice“, seien sie nun explizit ausformuliert oder implizit wirksam, wie dies gerade bei den Haltungen oft der Fall ist.
Und damit komme ich zur Einfalt meiner eigener Praxis zurück. Ich verstehe (Organisations-)Aufstellung als gestalteten (nicht offenen) Prozess der intuitiven Entscheidungsfindung, der meine Klienten zu ersten Schritten in eine immer offene Zukunft ermutigt (und nicht bloß zu Einsichten führt); das Ganze ist für mich ein schöpferisches – ko-kreatives – Vorgehen (ich verfolge nicht die Absicht, etwas in die Ordnung zu bringen) und es beunruhigt mich weiter nicht, dass ich keine Erklärung dafür habe, wie Sinn im sozialen Feld – im Raum – emergiert und wie sich die einzelnen Aspekte durch Stellvertreter vergegenwärtigen – repräsentieren – lassen (folge aber mit Interesse den Erklärungsversuchen, die sich beispielsweise auf die Quantenphysik und die Neurobiologie abstützen, auch wenn sie nicht wirklich Antworten auf die beiden Fragen liefern). Auch kann ich gut damit leben, dass Kolleginnen und Kollegen ihre eigene Auffassung von der Aufstellungsarbeit haben. Und: Ich schaue dankbar auf die Auseinandersetzungen mit ihnen zurück!
Kerstin: Lieber Claude, da kann ich mich anschließen und schaue auch noch einmal mit dir auf den Aspekt der Haltung. Vor allem, wenn wir eine, die Vielfalt fördernde, offene Haltung einnehmen wollen, braucht es ja fortwährende Übung … soweit jedenfalls mein Eindruck mit mir … Noch immer zu oft merke ich nicht, wie ich im Fokus „zugehe“, statt aufzuzoomen oder „zuschreibe“, statt zu fragen … Zum Beispiel lasse ich Annahmen an mir vorbeischleichen, ohne dass ich sie sie im Voraus als solche erkenne und als Hypothese nutzen oder transparent machen kann … und dann kommen solche Sätze aus mir heraus, wie „Ja, da ist nichts zu holen … ich mache dir mal den Vorschlag, dich umzudrehen…“ Zum Glück höre ich diese Annahmen dann ja auch laut und kann im nachhinein korrigieren – und mit der von dir genannten ko-kreativen Haltung, mit der ich die Interventionen als Vorschläge und nicht als Aufträge auffasse, kann nicht allzu viel passieren. Aufstellungen und auch Klienten sind zum Glück robust und erlauben so einiges… oder eben auch nicht und dann sind Klienten gut genug bei sich und drehen sich eben nicht um.
Die tiefe Erfahrung, dass der Vorgang der Anerkenntnis dessen, was ist, allem gilt: dem, was sich in Aufstellungen phänomenologisch zeigt, dem, was sich in uns zeigt, dem, was als Fakt passiert ist, dem was wir oder andere daraus gemacht haben, dem was folgt, wenn wir plötzlich klar sehen, wo wir uns vorher in eine Illusion verstrickt sahen … diese Erfahrung kann uns helfen, Vielfalt von Beliebigkeit zu unterscheiden. Denn das finde ich – wie du – wichtig. Allerdings, dieses „Vielfalt ja, Beliebigkeit nein“, habe ich mich und andere schon oft und schnell sagen gehört – das „Wie“ auszuloten, also wie man das macht, was es dazu braucht, wie das zu lehren sein könnte beschäftigt mich immer noch.
Ich wage es also einmal, als Abschluss unseres Dialoges, mich diesem Thema ganz praktisch anzunähern.
Zunächst eher introspektiv. Wenn wir für uns Aufstellungsleiter*innen selbst in der Innenperspektive sowie bezüglich der angewandten Formate in diesem ko-kreativen Tastraum bleiben, dann haben wir beides: das gemeinsame Fragen und Suchen sowie das im Jetzt ganz verbunden sein, das Anerkennen dessen was sich zeigt und das Offenhalten dessen, was es bedeuten könnte. Wenn sich dann eine Antwort, der nächste Schritt oder die Lösung zeigt – so ist meine Wahrnehmung – spüren dies alle Anwesenden als einen sich verdichtenden, stimmigen Akt, als eine körperlich resonante Erfahrung. Eine Art Zustimmung zum Prozess, gegebenenfalls bei aller Irritation auf der Ebene des Verstehens. Bei dieser Art zu arbeiten, kann sich Vielfalt zeigen, oder ich sage es mal so: wenn ich für Vielfalt stünde, würde ich mich hier wohl fühlen…
Beliebigkeit – auch wieder eine eher körperliche Erfahrung – bleibt eher als eine umherhuschende Energie im Kopf. Es fehlen Ruhe und Gelassenheit, schnell werden daher sich anbietende Ideen, Muster und ähnliches mit Intuition verwechselt und ergriffen, und schnell verwandelt sich das leichte Spiel dann in Starrheit. Ich habe die beiden Entitäten (und zusätzlich das Nicht-Wissen) einmal als Bodenanker ausgelegt und mich „blind“ eingefühlt. Wie auch immer eine solche Übung sich für andere anfühlen mag, ich habe wahrscheinlich „meine“ Beliebigkeit usw. wahrgenommen. Das hilft mir jedoch, sie wiederzuerkennen und mich dann anders auszurichten – nicht nur in meiner Funktion als Aufstellungsleiterin. Solche leibbezogenen Wahrnehmungen oder auch andere Selbsterkundungen und selbstreflexive Herangehensweisen an Themen unserer Arbeit finde ich sehr hilfreich. Alles, was dies fördert, macht uns vielfaltsfähig, angstfreier… kreativer, das wissen wir alle, erleben es täglich… und könnten es noch verstärken. Den Blick auf (graduelle) Grenzen oder Unterschiede selbstverständlich inbegriffen – es geht ja gar nicht ohne.
Vielfalt braucht Mehrperspektivität. Letztere ist uns als Systemiker*innen und Aufsteller*innen, als Personen in diesen Zeiten und in dieser Gesellschaft lebend, so vertraut wie förderungsbedürftig. Der Blick nach außen zeigt: Wir jonglieren längst mit mehreren Formaten, in den Weiterbildungen lernen wir unterschiedliche Herangehensweisen an Aufstellungen kennen und bilden sie ab – auch solche, die wir nicht präferieren. Wir gehen den Weg, die Methode und sie betreffende Elemente wie Entrollungen oder Einsatzmöglichkeiten (live, digital…) oder die Integration in verschiedenste Arbeitsbereiche und Kernkompetenzen derer, die sie anwenden weiter zu definieren – also zu schärfen – und gleichzeitig den wachsenden Fächer der Aufstellungsangebote im Auge zu behalten. Mehrperspektivität braucht mithin auch die Fähigkeit, unterscheiden zu können. Und damit theoretische und praktische Grundlagen für diverse Kriterien. Die Praxis, kulturreflexiv auf diese Kriterien zu schauen, und damit allein schon dreierlei Betrachtungsweisen auf Identitäten, auf Situationen und dann auf die spezielle Fallarbeit zu nutzen, finde ich hilfreich. Prof. Dr. Kirsten Nazarkiewicz hat hierzu Modelle entwickelt, die Orientierung innerhalb der verschiedenen Achsen geben, auf denen wir miteinander agieren (siehe hierzu den Artikel in der Heft-PdS 1/2017). Diese Blickwechsel und unterschiedliche Such- und Fragestandpunkte zu üben, in uns selbst mit unseren Anteilen und untereinander als Kolleg*innen, mit den Gruppen, die wir leiten oder einzelnen Klienten, gehört meines Erachtens zu unseren grundlegenden Kompetenzen, weil wir dadurch a) unsere nicht-sprachliche Sensorik entwickeln und b) uns unserer Konzepte besser bewusst werden. Alles, was diese Praxis zur Haltung der Offenheit, zum Nicht-Wissen, zum „Anfängergeist“ (wertungsfreies Wahrnehmen), zu Transparenz und zu gegenseitiger Achtung fördert, kann also meines Erachtens gleichermaßen die Fähigkeit stärken, mit Vielfalt kreativ und im Sinne der Einschließlichkeit umzugehen.
Wenn wir innerhalb der DGfS (weiter) darauf schauen und wir uns mit allen geschaffenen und zu schaffenden Strukturen bewusst des Themas Vielfalt annehmen, sind wir sicher auf einem guten Weg. Ich bin gespannt, was das Werteseminar dazu noch beigetragen hat.
Claude Rosselet und Kerstin Kuschik im November 2018
Literatur
Drexler, D. Phänomenologie und Konstruktivismus – (Wie) Geht beides?. PdS 2/2014, S. 25
Hartung, S. Über die Polarität von Phänomenologie und Konstruktivismus – und mögliche Folgen für die Aufstellungsarbeit. PdS 2/2014, S. 30
Nazarkiewicz, K.: Identitäten – kulturreflexiv betrachtet. PdS 1/2017, S. 45-51
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