Aufstellungen mit inneren Anteilen und ihre Besonderheiten

In den letzten zwei Jahrzehnten haben neue Erkenntnisse in der Traumaforschung die Aufstellungsarbeit im therapeutischen Kontext immer näher an das System Individuum herangeführt. Das heißt, es wird nicht mehr primär auf die Dynamik innerhalb des Familiensystems geschaut, sondern auf die Dynamik der inneren Persönlichkeitsanteile des Klienten, wenn es um die Lösung von Blockaden, Symptomen, einengenden Verhaltensmustern u.ä. geht. Pioniere der Systemaufstellung wie Franz Ruppert, Ero Langlotz, Wilfried Nelles haben eigene Methoden entwickelt, die über die klassische Systemaufstellung hinausgehen, um Klienten in ihrem Selbstwerdungsprozess effizient zu unterstützen (Ruppert, Banzhaf 2017; Langlotz 2015; Nelles, Gessner 2014). Für geschulte Systemaufsteller mit langjähriger Aufstellungserfahrung und insbesondere für Weiterbildner stellt sich hier die Frage, muss ich jetzt eine neue Aufstellungsmethode lernen oder gibt es eine gewisse Kontinuität zwischen den Erkenntnissen, Haltungen und Paradigmen der Systemaufstellung und der Aufstellung innerer Anteile? Und was sind die Besonderheiten in der Arbeit mit inneren Anteilen?

Christina Arnold

Psychoedukation

Klar ist, dass die inneren Anteile nach anderen Gesetzmäßigkeiten interagieren als Mitglieder eines Familiensystems. Wenn es also darum geht, das menschliche Innenleben besser zu verstehen und Schritte der Heilung zu setzen, ist ein solides Verständnis der inneren Dynamiken erforderlich. Daher müssen wir weiterfragen: An welchem Persönlichkeitskonzept orientiert sich der Aufstellungsleiter, wie geht er mit der Gefahr der Retraumatisierung um, wie findet/benennt er die für die Aufstellung relevanten inneren Anteile? Hier gibt es eine Bandbreite an Möglichkeiten. Somit ist es für den Aufstellungsleiter hilfreich, diese Fragen zu reflektieren und auf Basis von Selbsterfahrung, Literatur und Fortbildungen zu vertiefen. Elemente in eine Aufstellung zu bringen und den Prozess zu begleiten ist das Eine, dem Klienten einen adäquaten Deutungshorizont zu vermitteln das Andere. „Ein Merkmal von Aufstellungen mit inneren Anteilen ist die parallel zur Aufstellung angebotene Psychoedukation. Der Klient soll Zusammenhänge zum Beispiel zwischen einem belastenden Erlebnis in der Vergangenheit und dessen Folgen in der Gegenwart verstehen und Dynamiken (= das Zusammenspiel der inneren Anteile untereinander) soweit als möglich erkennen können.“ (Arnold 2021; S. 55)  

Innere Beziehungsarbeit

Während Familienaufstellungen und Organisationsaufstellungen auf die Heilung oder Erforschung von zwischenmenschlichen Beziehungen oder von Beziehungen zu materiellen oder abstrakten Bezügen abzielen, geht es in Aufstellungen mit inneren Anteilen um die Heilung und Erforschung des eigenen Innenraums. Man könnte vielleicht auch sagen, um die Beziehung zu sich selbst. Doch das stimmt nicht ganz, denn letztlich zielt die Arbeit mit inneren Anteilen auf das Eins sein mit sich selbst ab: Eins sein mit dem eigenen Leben wie es war und wie es ist; eine Beziehung zu sich selbst bedeutet, dass zwei da sind – Ich und mein Gefühl oder Ich und mein Körper. Die Kontaktaufnahme zu eigenen inneren Anteilen in der Aufstellung, seien sie traumatisiert, reaktionär oder ressourcenvoll, ist also gewissermaßen eine Anregung, zu sich selbst in Beziehung zu treten, jedoch nur als  Zwischenschritt auf dem Weg zu tief empfundenem Selbstmitgefühl, zu größtmöglicher Selbstannahme und Kongruenz. Hierbei ist die ganz eigene Lebensgeschichte von Relevanz. Vergessenes und Verdrängtes darf in bewältigbaren Schritten zum Vorschein kommen, um gesehen, anerkannt und integriert zu werden.

Zurückhaltung des Aufstellungsleiters

Insofern die Aufstellung innerer Anteile auf die Autonomie und Selbststeuerung des Klienten fokussiert, sind auch die Einbindung des Klienten in den Aufstellungsprozess und die Rolle des Aufstellungsleiters neu zu überdenken. Vom Aufstellungsleiter ist jedenfalls äußerste Zurückhaltung gefordert; er sollte die  direkte Kontaktaufnahme mit den Teilen des Selbstsystems des Klienten möglichst vermeiden. Der Aufstellungsleiter unterstützt das Erwachsenen-Ich des Klienten und fördert dessen Kontaktaufnahme mit seinen inneren Anteilen. Auf diese Weise kann der Klient sich selbst begegnen und erkennen, wo er in Bezug auf sein Anliegen steht, welche Schritte möglich sind und wie er gegebenenfalls weiterarbeiten kann.

Prozessorientierung

Es empfiehlt sich in der Aufstellungsarbeit mit inneren Anteilen eher Prozess-orientiert vorzugehen, im Unterschied zu der in Systemaufstellungen meist üblichen Lösungsorientierung. Prozessorientierung meint in diesem Zusammenhang, dass es nicht primär darum geht, „durch die Bewegung von Stellvertretern im Feld wirksame Lösungsschritte zu setzen oder ein abschließendes Lösungsbild zu finden, sondern vor allem um das Wahrnehmen und emotionale Kontaktaufnehmen des Klienten mit den eigenen inneren Anteilen, die im Hinblick auf ein bestimmtes Thema bedeutsam sind und um das Verstehen, was im eigenen Inneren gerade los ist.“ (Arnold 2021, S. 54) Aufstellungen mit inneren Anteilen sind wie ein Innehalten und sich Zeit  nehmen für sich selbst.  Nirgendwo hin zu müssen, sondern schauen und sich überraschen lassen, was von selbst geschehen möchte. Verlangsamtes Leben findet den Weg zu sich zurück. Jeder Anteil hat einen Sinn und eine Aufgabe und somit eine gute Absicht, auch wenn es sich im alltäglichen Leben ganz und gar nicht so anfühlt. Allein das Erkennen und Zulassen weitet den inneren Raum und es entstehen neue Sichtweisen und Handlungsoptionen, kurz gesagt ein freieres Lebensgefühl.

Grenze zwischen Ich und Nicht-Ich

Basis für die eigene Identität und damit für die Definition eines individuellen Seelenraums ist die Wahrnehmung einer Grenze zwischen Ich und Nicht-Ich. Ein wichtiger Lösungssatz zur Differenzierung von Eigenem und Fremdem in Aufstellungen ist beispielsweise, „Ich bin ich und du bist du.“ In Aufstellungen mit inneren Anteilen ist diese Grenzziehung insofern von Bedeutung, als es in Traumasituationen zu Grenzverletzungen kommt, die zur Introjektbildung führen können (= symbiotische Verstrickung). Der eigene Identitäts-Raum ist nur dann heil, wenn er frei ist von fremden Absichten und Zielen. Daher ist es sinnvoll, wenn Zweifel bestehen, die Stellvertreter innerer Anteile zu fragen, ob sie zum Klienten gehören oder zu einer anderen Person.

Grenze zwischen vergangenem Trauma und sicherem Jetzt

Das innere Traumaerleben kennt keine Zeit und erzeugt stets die Illusion, dass ich (noch) in Gefahr bin. „Wird durch irgendeinen Umstand eine frühere traumatische Erfahrung getriggert (Trigger = Auslöser), dann reagiert der Organismus mit den gleichen Empfindungen wie damals. Das heißt, der menschliche Organismus unterscheidet in solchen Situationen nicht zwischen Vergangenheit und Gegenwart.“ (Arnold 2021, S. 28) Im Hinblick auf eine stabile Ich-Identität ist es daher hilfreich, in manchen Fällen aufstellungstechnisch eine Grenze zu ziehen zwischen vergangenem Trauma und sicherem Jetzt, und damit ein Bewusstsein zu schaffen, dass das Schlimme definitiv vorbei ist und, dass die Gegenwart sicher ist. Dies kann durch Lösungssätze geschehen, durch Einführung einer Zeitlinie, durch Etablierung eines sicheren Ortes u.ä.

Der Mensch ist mehr als die Summe seiner Teile

Der menschliche Organismus ist ein hoch komplexes System aus Körper, Geist und Seele. Insofern ist der systemische Grundsatz, dass jedes System mehr ist als die Summe seiner Teile natürlich auch auf den Gesamtorganismus des menschlichen Individuums anzuwenden. Was ist nun aber dieses „Mehr“ – mehr als die Summe seiner Teile? Diese Frage führt uns entlang der approbierten wissenschaftlichen Erkenntnisse über die menschliche Identität hinein ins Unbekannte und damit in den Bereich der Spiritualität. Anerkannte Traumaexpert*innen wie z.B. Luise Reddemann halten fest, dass es für den Heilungsprozess dienlich ist, wenn man eine spirituelle Orientierung hat und schlimme Erfahrungen in ein größeres Ganzes einordnen kann. Fragt sich also, ob oder wie viel spirituelle Orientierung ein Aufstellungsleiter braucht, der mit inneren Anteilen arbeitet. Diese Frage kann selbstverständlich jeder nur für sich selbst beantworten. Im Sinne von Qualitätssicherung in der Aufstellungsarbeit mit inneren Anteilen darf an dieser Stelle vielleicht folgende Richtlinie formuliert werden: „Aufstellungsleiter benötigen neben einer entsprechenden Haltung und Methodenwissen auch ein theoretisches Konzept, aus dem die Vorgehensweisen den Klienten gegenüber resultieren. Das Konzept ist eine unverzichtbare Basis, aber eben auch nur ein Konzept, das in seiner Qualität immer vorläufig ist.“ (Arnold 2021, S. 43) Wenn es also um das „Mehr“ geht, ist die Annahme eines größeren Ganzen, auf das der Mensch sich beziehen kann, bedeutsam. Wir brauchen jedoch für Weiterentwicklung und Erkenntniszuwachs keine (neuen) Dogmen, wir brauchen vor allem viele Praxisbeispiele und eine breite Diskussion.   

Literatur und Quellenangaben

Arnold, Christina: Im Raum des Ich: Aufstellungen mit inneren Anteilen. Ein Praxisbuch. Jüchen 2021

Langlotz, Ernst Robert: Symbiose in Systemaufstellungen: Mehr Autonomie durch Selbst- Integration. Wiesbaden 2015

Nelles, Wilfried; Gessner, Thomas: Die Sehnsucht des Lebens nach sich selbst. Der Lebensintegrationsprozess in der Praxis. Köln 2014

Reddemann, Luise; Dehner-Rau, Cornelia: Trauma heilen. Ein Übungsbuch für Körper und Seele. Stuttgart 2018

Ruppert, Franz; Banzhaf, Harald: Mein Körper, mein Trauma, mein Ich. Anliegen aufstellen – aus der Traumabiografie aussteigen. München 2017

Christina Arnold ist Theologin, Psychologische Beraterin, Autorin und ÖfS-zertifizierte Weiterbildnerin für Systemaufstellungen und seit über 20 Jahren als psychologische Beraterin in eigener Praxis tätig. Sie leitet Aus- und Fortbildungen mit systemischem Schwerpunkt. www.aufstellung-tirol.com